Sonntag, 22. April 2012

Der alte Mann

Der alte Mann wird heute zum letzten Mal gefeiert. Da stehen Blumen, ein Bild von ihm, Freunde und Familie sind versammelt und man spielt Musik, von der man annimmt, dass sie ihm gefallen hätte.

Der alte Mann lebte ein normales ländliches Leben, hat gesehen, was er sehen, und erlebt, was er erleben wollte.

Die Anwesenden weinen, manche haben den alten Mann seit Jahren nicht gesehen, oder einen Gedanken an ihn verloren. Ich weiß nicht, ob ich weinen sollte, der alte Mann und ich, wir hatten nicht die beste Beziehung zueinander.

Der alte Mann verstand nie, warum ich mich weigerte, als kleiner Junge an Maschinen wie Kreissägen oder Bohrern zu arbeiten und darüber hinaus noch die Frechheit zu besitzen, nach Schutz für mein kindliches Gehör zu bitten.

Auch begriff der alte Mann nie, wie sich ein Teenager lieber an einer alten Nintendokonsole aufhalten könne, anstatt die abgeschiedene Dorfidylle zu erkunden und zu genießen.

So wurde ich in den Augen des alten Mannes schnell zum aufrührerischen Rebellen und schwarzen Schaf der Familie. Auch als zu laut wurde ich eingestuft, da ich diverse Schreie von mir gab, wenn mein Cousin wieder einmal etwas an mir durchführte, dass er liebevoll ‚Muskelreiten‘ nannte.
Bei der eben genannten Praktik hockt sich der ‚Reitende‘ über das Opfer und legt seine Knie auf dessen  Oberarmmuskulatur. Anschließend werden die Knie durch rhythmisch kreisende  Bewegungen in die Muskeln des liegenden Opfers gebohrt. Sicher war es absolut abwegig für ein Kind von 10 Jahren, wie ich es damals war, wegen solcherlei Lappalien vor Schmerzen zu schreien.  Wozu auch, geholfen hat nie jemand. Nur geschrien wurde nach mir, ich solle leiser sein.

Ich mied seit meiner Volljährigkeit und der damit folgenden Entscheidungsfreiheit die Besuche zu den Eltern meiner Mutter, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, da die dort Anwesenden ihr Bild von mir nie zu ändern gedachten. Ich verstand das als eine Art friedlicher Kapitulation, meine Großeltern hingegen legten auch das selbstverständlich negativ aus.

Jetzt ist der alte Mann tot, einfach so vor dem Fernseher legte der Gevatter seine Hand auf seine Schulter. Ein kurzer Schrei, so erzählt meine Großmutter, und ihr Mann regte sich nicht mehr.

Die Anwesenden stehen auf, die Urne wird ans Grab getragen, niedergelassen. Ich bin zum ersten Mal auf einer Beerdigung. Der Reihe nach werfen die Menschen Blüten und Erde in das Grab und geben dem Verstorbenen einen leise gesprochenen letzten Satz oder Wunsch mit auf den Weg.
Ein seltsamer Moment für mich, denn ich wüsste nicht, was ich ihm noch zu sagen habe.

Meine Mutter ist an der Reihe und vollführt das Ritual, mein Bruder schließt sich nahtlos an und schon bin ich an der Reihe.

Während der wenigen Schritte zum Grab läuft alles im Zeitraffer. Ich bemerke verwundert eine Träne in meinem Gesicht. Warum weine ich? Ist es wegen dem verstorbenen Teil der Familie? Ist es wegen der wenigen gemeinsamen Zeit?
Die Erkenntnis kommt, als meine Hand in das Blütenbecken greift. Ich weine nicht über den Tod des alten Mannes. Ich bin wütend. Ich verliere Tränen aus Wut darüber, über so viele Jahre hinweg aus den lächerlichsten gründen missverstanden worden zu sein. Ich bin wütend darüber, dass ich als jemand hingestellt wurde, der ich nie war, und das über Ewigkeiten und von Menschen, die zu meiner eigenen Familie gehörten. Aber anstatt zu hinterfragen und Verständnis gegenüber einem Kind zu zeigen, wurde Nägel mit Köpfen gemacht. Klar, ist ja auch leichter als Zeit an Pädagogik zu verschwenden. Verständlich.

Ich beschließe, dass mich Wut zu nichts bringen wird, vielleicht sollte ich tun, was ich mir selbst  so lange gewünschte habe. Ich zeige Verständnis und Reife, von der man so lange behauptete, ich besäße sie nicht.

Meine Hand wirft die Blüten in das Grab, während ich ihm leise einen letzten Satz mit auf den Weg gebe. „Machs gut, alter Mann.“


© Artwork by 'Parmiter' (http://parmiter.deviantart.com/)

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