Montag, 19. März 2012

Der schmale Grat zwischen Tiefkühlpommes und Blumenkohl

In diesen Hallen schlummert ein Monster. Seine tobsüchtigen Augen suchen nach mir, das weiß ich. Bereit, jeden Moment zuzuschlagen, aber ich bin vorgewarnt. Komm nur, Monster, ich weiß mich zu verteidigen!
Doch vielleicht sollte ich zuerst chronologisch etwas zurückgreifen, und meine gefährliche Situation und deren Umstände näher beleuchten.

Ich lebe in einer Wohnung im Zentrum der Stadt, und meine Wohnung teilt sich wiederum das Haus mit weiteren Wohnungen. Das alles wäre noch keine Rechtfertigung für den Verfolgungswahn bezüglich mich heimsuchender Augen, doch die Situation ist etwas kniffliger als man vorerst annehmen könnte. In einer der Wohnungen meines Wohnblocks nämlich, da wohnt seit wenigen Wochen Karo.

Karo hat einen tollen Körper, lange zum Zopf gebundene braune Haare und grüßt mich im Treppenhaus immer freundlich, aber gekonnt schüchtern. Einmal hat sie mir auch zugezwinkert. Klar, dass sie Sex will. Aber wie alle Männer mit einem gewissen Maß an Erfahrung und Würde wissen, will eine Frau dieses Kalibers erobert werden. So sicherlich auch Karo.
Man könnte sagen, dass mein akutes Problem mit dieser Ausgangssituation seinen Anfang nahm.

Karo, die eine Etage über mir wohnt, studiert Sportgeschichte. Darüber könnte ich wegsehen, sicherlich, jeder macht mal Fehler, aber es ist leider immer noch viel heikler, als bisher beschrieben. Ihre Freizeit verbringt Karo nämlich, ich weiß das, weil ich sie dort oft sehe, wenn ich von meinem Job als Mitarbeiter einer kleinen Bücherei nach Hause komme, zu einem großen Teil im Fitnessstudio um die Ecke. Das Problem an der Sache findet dort sein Fundament, wo meine Faulheit und meine generelle Abneigung gegen Sport erwähnt werden. Meine Gehirnhälften führen kurze Streitdialoge, in denen sie darüber entscheiden wollen, welcher Grundsatz nun stimmt: „Gegensätze ziehen sich an“ oder „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Ein Interessenskonflikt, der für das Zustandekommen einer späteren Liaison von entscheidender Wichtigkeit sein könnte.

Jetzt gilt es Ruhe zu bewahren. Ich und meine Gehirnhälften beschließen Möglichkeiten abzuschätzen. Lassen wir die sportliche Sport-studierende Studentin ihr trostloses Leben führen, ohne in den Genuss eines geselligen jungen Mannes wie mich zu kommen, oder versuchen wir, durch konsequente Aufopferung und Verzicht auf Fast-Food und Co. Ihr Herz für mich zu erobern? Welche Frau könnte solch eine Selbstlosigkeit unbeachtet lassen?

Dass die Frau mit dem Klingelschild, auf welchem „Winter“ steht, den Vornamen Karo trägt, weiß ich von Julia. Julia ist eine gute Freundin von mir und arbeitet in der Gemüseabteilung des Supermarktes in meiner Straße. Das bringt den Vorteil mit sich, dass wir uns nie sehen, wenn sie arbeitet, und somit eventuell peinlichen Situationen gleich im Voraus aus dem Weg gehen. Auch Julia verbringt Teile ihrer Freizeit im Fitnessclub der Straße, was wiederum der Grund dafür ist, dass sie Karo kennt. So sind aus den zwei Damen schnell Freundinnen geworden, was mir neue Möglichkeiten verschaffte, so zum Beispiel, Frau Winter beim Namen zu nennen. Und Karo ist ein ausgesprochen schöner Name, der sich phonetisch deutlich als bester Konkurrent von Pik, Kreuz und Herz abhebt.

Dummerweise, und die meisten Frauen werden mir an diesem Punkt Recht geben, gibt es die besten Freundschaften oft nur unter dem jeweils gleichem Geschlecht, und so kam es, dass mir Karo sehr schnell meinen Rang abgenommen hat, und nun, man könnte sagen, die beste Freundin von Julia ist.

Es wird immer verzwickter.
Und hier nähere ich mich der anfangs beschrieben Situation und der Höhle des Löwen.

Mein Kühlschrank samt Tiefkühlfach und vor allem letzteres zwingen mich durch ein auffällig großes Maß an Leere dazu, die 2 Etagen und etliche Meter zum beschriebenen Supermarkt zu gehen und den Freiraum des Kühlschranks und später meinen Magen zu füllen. Da ich mit hungerndem Magen nicht entspannt am Rechner sitzen kann, bleibt mir also nichts anderes übrig, als diesen Akt des Ausdauerlaufes auf mich zu nehmen.

Um Atemluft ringend erreiche ich einige Zeit später die Pforten des Palastes der Kapitalismusausübung.

In diesen Hallen schlummert ein Monster. Seine tobsüchtigen Augen suchen nach mir, das weiß ich. Bereit, jeden Moment zuzuschlagen, aber ich bin vorgewarnt. Komm nur, Monster, ich weiß mich zu verteidigen!

Julia ist hier, ich muss vorsichtig sein. Frauenfreundschaften sind die direkteste Form der Kommunikation der Welt, der am reibungslosesten funktionierende Buschfunk. Selbst das Internet ist langsamer, selbst das FBI weiß weniger. Wenn ich mich jetzt bei einem Nahrungserwerbsfauxpas erwischen lassen sollte, Gott sei meiner Seele gnädig.

Die ersten Minuten verlaufen reibungslos, ich pirsche durch die Regale, lasse meinen Wagen immer wieder stehen und schleiche mich erst einmal ohne vor, um die Lage zu checken. Ich fühle mich wie Tom Cruise in Mission: Impossible, nur deutlich weniger Arschloch. Vollkommen berauscht von meinem bisherigen Erfolg beschließe ich, mein Glück jetzt doch einmal richtig auf die Probe zu stellen. Destination Tiefkühltruhe. Jetzt geht’s ans Eingemachte, no risk - no fun, das ist mein Motto!

Das Riskanteste an meinem Vorhaben ist der Fakt, dass sich direkt neben den Tiefkühltruhen der Gemüsebereich befindet. Ich muss also denkbar vorsichtig sein und behalte meine langsame Vorpirschtaktik bei. Keine Spur von Julia, die Luft ist rein, ziemlich rein sogar, es duftet nach Grünzeug.

Das Ziel meiner Begierde befindet sich jetzt direkt neben mir. Gar köstliche Tiefkühlfritten in der Truhe neben mir warten nur darauf, von mir erst einem Saunabesuch unterzogen zu werden und anschließend in meinen Mund einzukehren. Ich öffne also die Truhe, beuge mich hinüber und.. Verdammt, Julia!

Mein Adrenalinspiegel ist plötzlich so hoch, wie zum letzten Mal beim Endgegner von Call of Duty. Alles läuft in Zeitlupe. Ich weiß genau, in wenigen Sekunden wird sie mich sehen. Zum Glück habe ich in den Jahren meiner Computererfahrungen gelernt, mit Bullet-Time umzugehen. Los Gehirnhälften! Zieht noch mal eure Optionen-Check-Nummer ab!
Tiefkühltruhe? Fehlanzeige, damit ruiniere ich nicht nur meine Chancen bei Karo sondern verliere zudem auch noch meine Reputation vor der gesamten Kundschaft.
Mission: Impossible-style an die Decke springen und dort abwartend verharren? Ach hätte ich nur etwas Zeit im Fitnessclub verschwendet.
Das Gemüse zu meiner Rechten? Mist, da steht ein Wagen direkt zwischen mir und dem Grünzeug, schlimmer noch: Das Einzige, was in greifbarer Nähe erscheint, sind Blumenkohlköpfe. Ich mag ja einiges an Gemüse nicht, aber Blumenkohl ist der unangefochtene König unter meinen Gemüseantagonisten. Julias Blick hebt sich vom Boden, es nützt nichts, jetzt oder nie. Veni, vidi, salire! Athletisch wie Herakles bei seinen 12 Prüfungen hechte ich über den Wagen zwischen mir und dem Gemüsekisten. Zweifelsohne sehe ich dabei aus wie Michael Jordan beim Sprung zum slam dunk. Als meine Hände den weißen Kohlkopf erreichen hat Julia mich erkannt und lächelt mit zu.
Stolz und erhobenen Hauptes trage ich das Gemüse in die Richtung meines Wagens und lege es würdigend hinein, während ich ihr zunicke.

Mein Moment der Euphorie währt nur kurz, denn ich stelle fest, dass mich Julias blick weiterhin verfolgt. Plötzlich scheint sie sich zwischen jedem Regal zu befinden, völlig unmöglich für mich, meiner regulären Ernährung nachzugehen, es nützt nichts. Ich werfe das Gemüse in meinen Wagen, dessen Name ich kenne, später gesellen sich noch Brot, Halbfettmargarine und sogar eine Tüte Ofenchips (0% Fett!) dazu.

Ich bin deprimiert. An der Kasse befinden sich kleinere Kühltruhen mit Eis am Stiel, wenigstens das soll mir heute nicht vergönnt bleiben, doch wie könnte es anders sein, Julia steht mit ein paar Bechern Joghurt hinter mit und erzählt mir von ihrem Feierabendeinkauf. Ich will nach Hause. Ich denke an einen Moment meiner Kindheit, in dem ich zum ersten Mal feststellen musste, dass mein GameBoy nichts zwangsläufig funktionieren muss, nur weil sich 4 Batterien darin befinden. Ich weinte stundenlang, da es sich nicht um Akkus handelte und sich keine geladenen Batterien im Haus befanden. Meine Tränen wuschen die Farbe aus meinem Lieblingsplüschtier, bis mir meine Mutter schließlich aus dem Tante-Emma-Laden gegenüber neue Batterien brachte. Ja, in meiner Kindheit war nicht immer alles heiter Sonnenschein.
„Hey, du hast ja nur gesunden Kram dabei, stellst du deine Ernährung um? Find ich super!“
Ich nicke und lächle, drehe mich aber eilig weg um meine Tränen zu vertuschen.

Am Tag darauf, und zum Abendessen gab es Pizza, selbstverständlich vom Lieferdienst, beschließe ich, doch noch meinen Nutzen aus dem gestrigen Einkauf zu schlagen. Ich richte einen riesigen Gemüseteller an, ich google nach Rezepten mit Blumenkohl und anderem Gemüse und deren Zubereitung, alles nur, um mich später zu trauen bei Winters zu klingeln und Karo mit einem köstlichen Mal für mich zu gewinnen.

Ich bin schockiert. Das Internet hat mir einmal mehr gezeigt, dass es Wunder gibt. Mit den vereinten Kräften meiner Freunde den 2 Hirnhälften und dem Internet habe ich es geschafft, ein ansehnliches Mahl zuzubereiten. Potzdonner. Euphorisiert richte ich ein Picknickkörbchen an und gehe in den Flur, um eine Art verspätetes Begrüßungsritual für die nicht mehr ganz so neue Nachbarin zu zelebrieren.

Nachdem ich gefühlte Stunden nach meinem Klingeln geharrt habe, öffnet sich die Tür, ich bin total aufgeregt, schaffe es aber das wesentliche Anliegen meines Störens zu schildern.
„Hey, was ist denn in dem Korb? Du hast gekocht? Wie lieb, klar komm rein, dann können wir uns etwas kennen lernen!“
Das lief ja besser als ich es mir hätte erträumen können! Wir reden eine Weile über Belanglosigkeiten wie das Wetter und den Wohnblock, dann über ihr Studium, ihre Fitnessclubbesuche und meinen spannenden Arbeitsalltag im Buchladen, als Karo mich darauf hinweist, dass gekochte Speisen nicht ewig warm bleiben, und wir deswegen vielleicht auch verspeisen sollte, was ich da gekocht habe.
Ich nehme also aufgeregt und etwas stolz das Tuch vom Picknickkorb und serviere das Menü.
Karo schaut etwas skeptisch, und ich frage sie, ob irgendwas nicht stimmt.

„Weißt du, warum ich nicht Sport, sondern Sportgeschichte studiere? Oder warum ich so viel Zeit im Fitnessclub verbringe?“
Ich tendiere auf gesteigertes Interesse für Sport.
„Nimms mir nicht krumm, aber ich kann solchen puren Gemüsekram nicht essen, ins Fitnesscenter gehe ich nur, damit meine Ernährung nicht ansetzt! Aber lass dich nicht aufhalten, iss nur! Ich hab noch Backofenfritten da.“




© Artwork by 'tikurion' (http://tikurion.deviantart.com/)

1 Kommentar:

  1. Diese Kurzgeschichte hat mir sehr gefallen. Dass ich deine gewählte Sprache und deien breiten Wortschatz bewundere, muss ich ja nicht extra erwähnen. Sehr schön geschrieben :)
    Dein rosa Lutschbonbon

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