Mittwoch, 12. Mai 2021

Das Boot

Ich war gestrandet. Ich kann nicht sagen, dass ich verzweifelt war, das Treibgut reichte zum Leben und die Insel gab mir alles Nötige. An die regelmäßigen Gewitter gewöhnte ich mich genau so, wie mich schon bald das darauffolgende sanfte Rauschen der Wellen immer wieder beruhigte. Es war kein schlechtes Leben auf meiner kleinen Insel, ich wusste mich gut mit mir selbst zu unterhalten, lernte dadurch, mich selbst zu akzeptieren und in Geduld zu üben, auch wenn es Jahre kostete. Mit dem Fernglas vor den Augen auf der Suche nichts, frei von Erwartungen aber jederzeit bereit für eine Überraschung sah ich es eines kühlen Abends zum ersten Mal.

Dort am Horizont, offensichtlich ohne direkten Kurs auf dem Wasser treibend, strömte es mir führerlos entgegen. Das rabenschwarze Boot mit der auffällig blauen Maserung an seinem Bug sah von der Insel geradezu majestätisch aus, selbst seine schwankende Fahrt langsam in Richtung der Insel konnte daran nichts ändern. Mein Puls beschleunigte sich zusehends. Konnte es wirklich sein, dass sich nach all der Zeit ein Boot dorthin verirrte, noch dazu ein seetüchtiges?

Sein Rumpf ging nach einiger Zeit langsam am Strand der Insel auf Grund und nach einer Weile wagte ich es, das Gefährt vorsichtig zu erkunden. Es war kein neues Boot, das erkannte ich schnell, hier und da waren Kratzer und Risse in seinem stellenweisen porösen Lack, das ein oder andere Leck war darüber hinaus nicht zu übersehen, aber es ließ erkennen, was für ein prachtvolles Schiffchen es einmal gewesen sein muss. Ich fixierte das Boot auf meiner Insel, damit es nicht wieder auf den oftmals rauen Wellen des umgebenden Meeres davontrieb und ertappte mich bald dabei, erste Pläne zu schmieden, die Insel eines Tages mit dem Boot zu verlassen. Geradezu absurd, hatte ich mich doch nach all der Zeit so gut mit meinem Leben auf der Insel organisiert, dass die Alternative mir fremder und unglaubwürdiger vorkam, als mein Leben einfach weiterhin dort zu verbringen. Aber der Samen war gepflanzt, der Gedanke in meinem Kopf nahm seinen Platz ein und dachte nicht daran, diesen wieder zu verlassen, und so verbrachte ich mehr und mehr Zeit mit dem Boot.

Je intensiver ich es erkunde, desto deutlicher gaben sich die Spuren seiner Geschichte zu erkennen. Natürlich, die Schäden waren nicht zu wegzureden, ich konnte sie nicht ignorieren. Mit diesem Boot zu fliehen würde sich als kein leichtes Unterfangen herausstellen, aber ich würde es versuchen, voller Stolz würde ich sein, schaffte ich es, das Boot und mich über das Meer in einen sicheren Hafen zu führen, also schritt ich zur Tat und investierte Monate in seine Reparatur. Ich stopfte Lecke, gab dem Boot mit dem, was das Treibgut als Lackersatz hergab so gut es eben ging neue Sicherheit und Fahrtüchtigkeit und ging sogar soweit, ihm immer und immer wieder gut zuzureden, als Kapitän verstand ich dies schließlich als meine Pflicht.

Schließlich war der Tag gekommen. Ich lud meine wenigen Habseligkeiten auf das Schiff und kappte die Leinen, sodass die hoffnungsvolle Fahrt ins Ungewisse beginnen konnte. Das Meer blieb zunächst so wankelmütig wie eh und je, einige Zeit verbrachten das Boot und ich mit sanftem Wellengang und es erfüllte mich mit Freude und Stolz, sein Kapitän zu sein. Zu anderen Zeiten, wenn das Meer mit seinen Stürmen gnadenlos gegen seinen Rumpf preschten, war es nicht selten eine Umklammerung der Reling, die es mir mit letzten Kräften erlaubte, nicht den Halt zu verlieren und vom Boot stürzen. So ging unsere gemeinsame Reise eine ganze Weile so gut, wie sie auf dieser anstrengenden Fahrt eben gehen konnte, aber wir hielten durch.

Bis der Flickenteppich der Reparaturen langsam riss. Es begann damit, dass sich der Tank nur noch unter größter Anstrengung füllen ließ und zu allem Überfluss auch noch leckte. Damit nicht genug verweigerte das Steuer immer mehr die Kontrolle, bis es nicht selten vorkam, dass wir für jede Seemeile, die wir gemeinsam hinter uns ließen, zwei in die entgegengesetzte Richtung unternahmen. Es war, als wollte das Boot die Hoffnung verlieren und hier, verloren in den Weiten des Meeres, auf den Grund des Ozeans sinken. Aber ich blieb wacker. Mit mir würde dieses Boot nicht untergehen, kein Boot der Welt würde mich mit sich in die Tiefe ziehen. Und ich sollte Recht behalten.

Nach unzähligen Strapazen, zahlreichen Niederschlägen und Kämpfen um Hoffnung und noch ein wenig, ja noch ein klein wenig Ausdauer, glaubte ich, Land zu sehen. Groß war meine Freude, die Rettung schien zum Greifen nahe, mein wundervolles Boot und ich, wir würden es tatsächlich geschafft haben. Doch so endete unsere Fahrt nicht. Das Boot machte alle Anstalten, den für mich so nah erscheinenden Hafen nicht mehr zu erreichen, es war, als würde es unser gemeinsames Unterfangen aufgeben, als fehle ihm am Ende einfach die nötige Kraft. Ich fühlte das Wasser bereits bis zu den Knöcheln, das Boot fuhr tiefer und tiefer, ohne mir die Möglichkeit einzuräumen, letzte Rettungsmaßnahmen zu unternehmen, um uns beide doch noch in den sicheren Hafen einkehren zu lassen. Und ohne ein geübter Schwimmer zu sein, nur mit dem Wunsch, nach meinen Anstrengungen nicht mit dem Boot unterzugehen, sprang ich von Deck. Ob es Tränen oder das Salzwasser in meinen Augen war konnte man unmöglich genauer identifizieren, aber ich paddelte erschöpft auf das Land zu, kein Blick zurück, mit reiner Akzeptanz dem gegenüber, was geschehen war und geschehen würde. 

  

All dies ist eine gefühlte Ewigkeit her. Noch heute stehe ich fast täglich am Hafen und schaue in die Ferne, nicht selten in warmherziger Erinnerung an meine Zeit mit dem Boot. Und manchmal, wenn die Abendsonne den Horizont rot aufleuchten lässt und alles zwischen ihr und mir am Rande dieses Kontinents wie Silhouetten erscheinen lässt, glaube ich, ein ganz ähnliches Boot erkennen zu können, stolz auf der Meeresoberfläche treibend, mit einem Kapitän, der es zielgerichtet wieder und wieder sicher in seinen Heimathafen steuert. Das Beste, was man einem solch wundervollen Boot nur wünschen kann. Und dann wage ich mich manches Mal zu fragen: Was ist schon ein Kontinent, wenn nicht schlicht eine sehr, sehr große Insel.