Montag, 19. März 2012

Der schmale Grat zwischen Tiefkühlpommes und Blumenkohl

In diesen Hallen schlummert ein Monster. Seine tobsüchtigen Augen suchen nach mir, das weiß ich. Bereit, jeden Moment zuzuschlagen, aber ich bin vorgewarnt. Komm nur, Monster, ich weiß mich zu verteidigen!
Doch vielleicht sollte ich zuerst chronologisch etwas zurückgreifen, und meine gefährliche Situation und deren Umstände näher beleuchten.

Ich lebe in einer Wohnung im Zentrum der Stadt, und meine Wohnung teilt sich wiederum das Haus mit weiteren Wohnungen. Das alles wäre noch keine Rechtfertigung für den Verfolgungswahn bezüglich mich heimsuchender Augen, doch die Situation ist etwas kniffliger als man vorerst annehmen könnte. In einer der Wohnungen meines Wohnblocks nämlich, da wohnt seit wenigen Wochen Karo.

Karo hat einen tollen Körper, lange zum Zopf gebundene braune Haare und grüßt mich im Treppenhaus immer freundlich, aber gekonnt schüchtern. Einmal hat sie mir auch zugezwinkert. Klar, dass sie Sex will. Aber wie alle Männer mit einem gewissen Maß an Erfahrung und Würde wissen, will eine Frau dieses Kalibers erobert werden. So sicherlich auch Karo.
Man könnte sagen, dass mein akutes Problem mit dieser Ausgangssituation seinen Anfang nahm.

Karo, die eine Etage über mir wohnt, studiert Sportgeschichte. Darüber könnte ich wegsehen, sicherlich, jeder macht mal Fehler, aber es ist leider immer noch viel heikler, als bisher beschrieben. Ihre Freizeit verbringt Karo nämlich, ich weiß das, weil ich sie dort oft sehe, wenn ich von meinem Job als Mitarbeiter einer kleinen Bücherei nach Hause komme, zu einem großen Teil im Fitnessstudio um die Ecke. Das Problem an der Sache findet dort sein Fundament, wo meine Faulheit und meine generelle Abneigung gegen Sport erwähnt werden. Meine Gehirnhälften führen kurze Streitdialoge, in denen sie darüber entscheiden wollen, welcher Grundsatz nun stimmt: „Gegensätze ziehen sich an“ oder „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Ein Interessenskonflikt, der für das Zustandekommen einer späteren Liaison von entscheidender Wichtigkeit sein könnte.

Jetzt gilt es Ruhe zu bewahren. Ich und meine Gehirnhälften beschließen Möglichkeiten abzuschätzen. Lassen wir die sportliche Sport-studierende Studentin ihr trostloses Leben führen, ohne in den Genuss eines geselligen jungen Mannes wie mich zu kommen, oder versuchen wir, durch konsequente Aufopferung und Verzicht auf Fast-Food und Co. Ihr Herz für mich zu erobern? Welche Frau könnte solch eine Selbstlosigkeit unbeachtet lassen?

Dass die Frau mit dem Klingelschild, auf welchem „Winter“ steht, den Vornamen Karo trägt, weiß ich von Julia. Julia ist eine gute Freundin von mir und arbeitet in der Gemüseabteilung des Supermarktes in meiner Straße. Das bringt den Vorteil mit sich, dass wir uns nie sehen, wenn sie arbeitet, und somit eventuell peinlichen Situationen gleich im Voraus aus dem Weg gehen. Auch Julia verbringt Teile ihrer Freizeit im Fitnessclub der Straße, was wiederum der Grund dafür ist, dass sie Karo kennt. So sind aus den zwei Damen schnell Freundinnen geworden, was mir neue Möglichkeiten verschaffte, so zum Beispiel, Frau Winter beim Namen zu nennen. Und Karo ist ein ausgesprochen schöner Name, der sich phonetisch deutlich als bester Konkurrent von Pik, Kreuz und Herz abhebt.

Dummerweise, und die meisten Frauen werden mir an diesem Punkt Recht geben, gibt es die besten Freundschaften oft nur unter dem jeweils gleichem Geschlecht, und so kam es, dass mir Karo sehr schnell meinen Rang abgenommen hat, und nun, man könnte sagen, die beste Freundin von Julia ist.

Es wird immer verzwickter.
Und hier nähere ich mich der anfangs beschrieben Situation und der Höhle des Löwen.

Mein Kühlschrank samt Tiefkühlfach und vor allem letzteres zwingen mich durch ein auffällig großes Maß an Leere dazu, die 2 Etagen und etliche Meter zum beschriebenen Supermarkt zu gehen und den Freiraum des Kühlschranks und später meinen Magen zu füllen. Da ich mit hungerndem Magen nicht entspannt am Rechner sitzen kann, bleibt mir also nichts anderes übrig, als diesen Akt des Ausdauerlaufes auf mich zu nehmen.

Um Atemluft ringend erreiche ich einige Zeit später die Pforten des Palastes der Kapitalismusausübung.

In diesen Hallen schlummert ein Monster. Seine tobsüchtigen Augen suchen nach mir, das weiß ich. Bereit, jeden Moment zuzuschlagen, aber ich bin vorgewarnt. Komm nur, Monster, ich weiß mich zu verteidigen!

Julia ist hier, ich muss vorsichtig sein. Frauenfreundschaften sind die direkteste Form der Kommunikation der Welt, der am reibungslosesten funktionierende Buschfunk. Selbst das Internet ist langsamer, selbst das FBI weiß weniger. Wenn ich mich jetzt bei einem Nahrungserwerbsfauxpas erwischen lassen sollte, Gott sei meiner Seele gnädig.

Die ersten Minuten verlaufen reibungslos, ich pirsche durch die Regale, lasse meinen Wagen immer wieder stehen und schleiche mich erst einmal ohne vor, um die Lage zu checken. Ich fühle mich wie Tom Cruise in Mission: Impossible, nur deutlich weniger Arschloch. Vollkommen berauscht von meinem bisherigen Erfolg beschließe ich, mein Glück jetzt doch einmal richtig auf die Probe zu stellen. Destination Tiefkühltruhe. Jetzt geht’s ans Eingemachte, no risk - no fun, das ist mein Motto!

Das Riskanteste an meinem Vorhaben ist der Fakt, dass sich direkt neben den Tiefkühltruhen der Gemüsebereich befindet. Ich muss also denkbar vorsichtig sein und behalte meine langsame Vorpirschtaktik bei. Keine Spur von Julia, die Luft ist rein, ziemlich rein sogar, es duftet nach Grünzeug.

Das Ziel meiner Begierde befindet sich jetzt direkt neben mir. Gar köstliche Tiefkühlfritten in der Truhe neben mir warten nur darauf, von mir erst einem Saunabesuch unterzogen zu werden und anschließend in meinen Mund einzukehren. Ich öffne also die Truhe, beuge mich hinüber und.. Verdammt, Julia!

Mein Adrenalinspiegel ist plötzlich so hoch, wie zum letzten Mal beim Endgegner von Call of Duty. Alles läuft in Zeitlupe. Ich weiß genau, in wenigen Sekunden wird sie mich sehen. Zum Glück habe ich in den Jahren meiner Computererfahrungen gelernt, mit Bullet-Time umzugehen. Los Gehirnhälften! Zieht noch mal eure Optionen-Check-Nummer ab!
Tiefkühltruhe? Fehlanzeige, damit ruiniere ich nicht nur meine Chancen bei Karo sondern verliere zudem auch noch meine Reputation vor der gesamten Kundschaft.
Mission: Impossible-style an die Decke springen und dort abwartend verharren? Ach hätte ich nur etwas Zeit im Fitnessclub verschwendet.
Das Gemüse zu meiner Rechten? Mist, da steht ein Wagen direkt zwischen mir und dem Grünzeug, schlimmer noch: Das Einzige, was in greifbarer Nähe erscheint, sind Blumenkohlköpfe. Ich mag ja einiges an Gemüse nicht, aber Blumenkohl ist der unangefochtene König unter meinen Gemüseantagonisten. Julias Blick hebt sich vom Boden, es nützt nichts, jetzt oder nie. Veni, vidi, salire! Athletisch wie Herakles bei seinen 12 Prüfungen hechte ich über den Wagen zwischen mir und dem Gemüsekisten. Zweifelsohne sehe ich dabei aus wie Michael Jordan beim Sprung zum slam dunk. Als meine Hände den weißen Kohlkopf erreichen hat Julia mich erkannt und lächelt mit zu.
Stolz und erhobenen Hauptes trage ich das Gemüse in die Richtung meines Wagens und lege es würdigend hinein, während ich ihr zunicke.

Mein Moment der Euphorie währt nur kurz, denn ich stelle fest, dass mich Julias blick weiterhin verfolgt. Plötzlich scheint sie sich zwischen jedem Regal zu befinden, völlig unmöglich für mich, meiner regulären Ernährung nachzugehen, es nützt nichts. Ich werfe das Gemüse in meinen Wagen, dessen Name ich kenne, später gesellen sich noch Brot, Halbfettmargarine und sogar eine Tüte Ofenchips (0% Fett!) dazu.

Ich bin deprimiert. An der Kasse befinden sich kleinere Kühltruhen mit Eis am Stiel, wenigstens das soll mir heute nicht vergönnt bleiben, doch wie könnte es anders sein, Julia steht mit ein paar Bechern Joghurt hinter mit und erzählt mir von ihrem Feierabendeinkauf. Ich will nach Hause. Ich denke an einen Moment meiner Kindheit, in dem ich zum ersten Mal feststellen musste, dass mein GameBoy nichts zwangsläufig funktionieren muss, nur weil sich 4 Batterien darin befinden. Ich weinte stundenlang, da es sich nicht um Akkus handelte und sich keine geladenen Batterien im Haus befanden. Meine Tränen wuschen die Farbe aus meinem Lieblingsplüschtier, bis mir meine Mutter schließlich aus dem Tante-Emma-Laden gegenüber neue Batterien brachte. Ja, in meiner Kindheit war nicht immer alles heiter Sonnenschein.
„Hey, du hast ja nur gesunden Kram dabei, stellst du deine Ernährung um? Find ich super!“
Ich nicke und lächle, drehe mich aber eilig weg um meine Tränen zu vertuschen.

Am Tag darauf, und zum Abendessen gab es Pizza, selbstverständlich vom Lieferdienst, beschließe ich, doch noch meinen Nutzen aus dem gestrigen Einkauf zu schlagen. Ich richte einen riesigen Gemüseteller an, ich google nach Rezepten mit Blumenkohl und anderem Gemüse und deren Zubereitung, alles nur, um mich später zu trauen bei Winters zu klingeln und Karo mit einem köstlichen Mal für mich zu gewinnen.

Ich bin schockiert. Das Internet hat mir einmal mehr gezeigt, dass es Wunder gibt. Mit den vereinten Kräften meiner Freunde den 2 Hirnhälften und dem Internet habe ich es geschafft, ein ansehnliches Mahl zuzubereiten. Potzdonner. Euphorisiert richte ich ein Picknickkörbchen an und gehe in den Flur, um eine Art verspätetes Begrüßungsritual für die nicht mehr ganz so neue Nachbarin zu zelebrieren.

Nachdem ich gefühlte Stunden nach meinem Klingeln geharrt habe, öffnet sich die Tür, ich bin total aufgeregt, schaffe es aber das wesentliche Anliegen meines Störens zu schildern.
„Hey, was ist denn in dem Korb? Du hast gekocht? Wie lieb, klar komm rein, dann können wir uns etwas kennen lernen!“
Das lief ja besser als ich es mir hätte erträumen können! Wir reden eine Weile über Belanglosigkeiten wie das Wetter und den Wohnblock, dann über ihr Studium, ihre Fitnessclubbesuche und meinen spannenden Arbeitsalltag im Buchladen, als Karo mich darauf hinweist, dass gekochte Speisen nicht ewig warm bleiben, und wir deswegen vielleicht auch verspeisen sollte, was ich da gekocht habe.
Ich nehme also aufgeregt und etwas stolz das Tuch vom Picknickkorb und serviere das Menü.
Karo schaut etwas skeptisch, und ich frage sie, ob irgendwas nicht stimmt.

„Weißt du, warum ich nicht Sport, sondern Sportgeschichte studiere? Oder warum ich so viel Zeit im Fitnessclub verbringe?“
Ich tendiere auf gesteigertes Interesse für Sport.
„Nimms mir nicht krumm, aber ich kann solchen puren Gemüsekram nicht essen, ins Fitnesscenter gehe ich nur, damit meine Ernährung nicht ansetzt! Aber lass dich nicht aufhalten, iss nur! Ich hab noch Backofenfritten da.“




© Artwork by 'tikurion' (http://tikurion.deviantart.com/)

Montag, 12. März 2012

Interview mit Juracid

Juracid: Sehr geehrter 655321. Ihr umstrittener gleichnamiger Blog 655321 ist für viele Leser derzeit ein Meilenstein in der Lebensfindung- und Erweiterung. Tabus werden gebrochen, Meinungen direkt ins Gesicht geblasen und oftmals kommt die Gesellschaft nicht gerade gut dabei weg. Was waren Ihre Intentionen, solch einen Blog über das alltägliche Leben im knallharten Realismus zu gestalten?

655321: Zunächst einmal Danke für das Kompliment. Nun, 655321 entstand nicht aus dem Grund, aus welchem es heute existiert. Zu Beginn handelte es sich dabei eher um ein Medium, mit dem ich, sagen wir einfach, negative Zeiten und Dinge zu verarbeiten versuchte. Da dieses Ziel irgendwann erfüllt war, ich aber meine Vorliebe für das Schreiben entdeckte, konnte das, was gut anfing, natürlich nicht einfach von der Welt genommen werden. 655321 wurde also eine Sammlung von Kurzgeschichten und Gedanken, die ich loswerden musste. Menschen Dinge ungeschönt darlegen, das war schon immer meine Grundeinstellung. Dass aber auch hin & wieder humoristische Texte auftauchen, ja sogar Texte über so was wie Liebe, das muss ja auch mal sein, ist ja klar, das Leben ist ja nicht ausschließlich negativ. ganz im Gegenteil.

Juracid: Nun ja, nicht umsonst handelt es sich bei Ihrem Blognamen um die Zellennummer des Alexander DeLarge aus dem berüchtigten Skandalfilm Uhrwerk Orange aus dem Jahre 1971. Hat dieses kunstvolle cineastische Meisterwerk Sie bei Ihren Texten stark beeinflusst?

655321: Oh, da hat jemand nachgeforscht. Ja, ohne Zweifel hat "A Clockwork Orange" mich beeinflusst. Nicht unbedingt so, dass ich deswegen bestimmte Texte verpasst habe, aber ethisch definitiv. Da haben Burgess und Kubrik großartige Arbeit geleistet. Ich bin, so sagt man, ein Mensch, der sich sehr für Recht und Unrecht, Freiheit der Gedanken und der Auslebung seiner Persönlichkeit interessiert.

Juracid: Oh ja, davon liest sich in Ihren Geschichten ja auch recht viel. In Ihren Texten geht es zum Beispiel um das alltägliche Leben von Obdachlosen, der Heuchelei einer ideologielosen Partygesellschaft, die Konsumsucht der Bevölkerung, der leichenbefledderte Kapitalismus großer Konzerne, schwindendes Vertrauen in der Liebe und die schonungslose Darstellung männlicher sexueller Triebe. Inwieweit spiegeln sich diese Berichte denn auch im Leben des Autors wieder? Würden Sie sagen, dass in Jedem Ihrer Berichte ein Teil von Ihnen persönlich steckt?

655321: Definitiv. Und wenn es nur ein kleiner ist. Es kommt aber auch nicht selten vor, dass ein Text 100% ich ist. Oftmals geben Situationen, die ich alleine oder mit Freunden erlebe, Ausschlag für einen späteren Text. Ich habe zum Beispiel einen sehr guten Freund, der mit seinen, vielleicht manchmal etwas seltsamen aber durchaus umsetzbaren, Ansichten und Gedanken für den besagten Text über einen obdachlosen Menschen in einer Großstadt verantwortlich ist. Zugegeben: Ich mag den Text.
Andere Texte, wie zum Beispiel die Sache mit dem brennenden Firmenkomplex, sind schon fast direkte Wünsche. Wenn es in einem Text um Liebe geht, dann darf man davon ausgehen, dass es sich beim Protagonisten um mich handelt...

Juracid: Sehr interessant 655321. Der standarisierte CDU-Leser würde bei solchen Texten natürlich mit dem Kopf schütteln und sich fragen, was in Ihrem Leben verkehrt gelaufen ist. Warum zum Beispiel schreiben Sie denn keine ausschließlich fröhlichen Bücher über das Schöne im Leben? Zwar erzählen Ihre Texte auch von Freundschaft und Geselligkeit, jedoch wird es natürlich Fragen geben, wie Sie zu den weitaus verbreiteteren bizarreren Themengebieten gedanklich gelangt sind. Um diese Fragen den werten Kollegen vorweg zu nehmen, wird meine Wenigkeit Sie einfach mal salopp nach dem Kern ausquetschen, was demnach heißen soll, ob Sie für ihre morbiden Texte persönlich vom Verlauf des Lebens gekennzeichnet wie geprägt sind. Was meinen Sie dazu?

655321: Ich vertrete die Meinung, dass man Texte nicht schreiben kann, wenn man nicht mit dem, was man schreibt, vertraut ist oder sich zumindest damit befasst hat. Klar habe ich viele Situationen auch so oder so ähnlich erlebt, wie ich sie beschreibe. Zugegeben: Ich bin nicht Obdachlos und hatte noch nie Sex mit einem Produkt aus einem Fast-Food-Restaurant. Asche auf mein Haupt, ich bitte um Vergebung. Für mein Weltbild mache ich auch meinen Werdegang verantwortlich. Es gibt Menschen, und das ist einfach die breite Masse, die derartige Texte nicht versteht, weil in ihrem Leben bisher nur Sonnenschein die Runde machte. Ich will nicht sagen, dass in meinem Leben alles tragisch und mies verlief, aber ja, es gab auch Schattenseiten.

Juracid: Sie erzählten zu Beginn dieses Dialoges, dass Sie Ihren Blog anfangs nur gestartet haben, um persönliche Dinge zu verarbeiten. Waren es denn diese Schattenseiten, welche dazu geführt haben?

655321: Nein, ich denke nicht, wenn überhaupt, dann zu einem nicht mehr nennenswerten Teil. 655321 entstand in einem unschönen Lebensabschnitt, ganz klar, aber längst nicht mit einer so gewaltigen Tragweite, als dass es mich zu dem machte, was ich heute bin. Wie so vieles entstand der Blog aus so etwas wie Liebe. Es hat einfach geholfen, sich von der Seele zu schreiben, was nicht gut lief und was ich mir wünschte, oder ganz einfach auch, wie es mir ging. Nicht, dass sich dadurch etwas geändert hätte, aber doch, wie gesagt, es half mir. Aber heute bin ich dankbar für diese Zeit. Ich bin weitestgehend zufrieden mit mir und meiner Situation, ich sehe Dinge realistischer und rationaler und ich komme mit bestimmten Situationen besser klar, als noch in unerfahreneren Zeiten.

Juracid: Haben Sie Ziele, die Sie mit Ihrem Blog anstreben? Oder anders gefragt: Welche Zielgruppe von Lesern wünschen Sie sich für Ihre Schreibkunst?

655321: Ein schönes Ziele wäre es, mein, ich wage es einmal Talent zu nennen, mit 655321 so weit auszubauen, dass ich vielleicht irgendwann mal etwas größeres fertigstelle. Der Gedanke irgendwann einmal ein Buch in einer Bücherei zu sehen, auf dem mein Name zu lesen ist, ist großartig. Zum Thema Zielgruppe. Ich freue mich über JEDEN Leser, der sich mit dem, was ich schreibe identifizieren kann, natürlich auch über jeden, der darüber ausgiebig mit mir diskutieren möchte. Ich grenze da niemanden aus. Es wäre auch unklug, das zu tun, wo ich doch bei derzeit rund 30 treuen Lesern bin. Wenn ich irgendwann einmal die, sagen wir einfach realistisch gesehen, zehn Millionen Leser habe, dann grenze ich alle Menschen aus, die eine Chefposition in einem Unternehmen habe. Oder noch besser, ich lasse sie Zahlen, damit sie in den Genuss kommen, aber ich schweife etwas vom Thema ab...

Juracid: Oha, daraus kann man schließen, dass Sie mit Instanzen eher negative Erfahrungen durchlebt haben?

655321: Man verstehe mich nicht falsch. Ich habe prinzipiell nichts gegen Menschen, die es geschafft haben, an eine Führungsposition zu kommen. Aber ja, ich habe durchaus negative Erfahrungen gemacht. Am stärksten kritisiere ich aber, dass Menschen in der Chefetage oftmals ihre menschliche Seite aufgeben. Oft auch wissend und wollend. So was ekelt mich an.

Juracid: Das ist verständlich. Damit wären wir wohl bei einem weiteren Ventil, was Sie in Ihrem Blog persönlich verarbeiten. Planen Sie denn in naher Zukunft die Umstellung des Blogs auf ein richtiges Buch? Oder soll Ihr Blog für die nächste Zeit in seiner jetzigen Form bestehen bleiben?

655321: 655321 ist und bleibt ein Blog, so viel steht fest. Wenn es irgendwann ein Buch von mir geben sollte, dann wohl unter meinem bürgerlichen Namen und als, so nehme ich an, zusammenhängende Geschichte. Über ein Kurzgeschichtenbuch könnte man allerdings auch nachdenken.

Juracid: Würden Sie sagen, dass sich Ihr Grundgefühl beim Schreiben in Ihren Blog seit Beginn verändert hat? Haben Sie sich in dieser Zeit verändert? Sie deuteten ja bereits weiter oben an, dass Sie Persönliches, sagen wir mal, "abgearbeitet" hätten.

655321: Ich glaube, gerade in den letzten 3 Jahren, bin ich reifer und eben auch rationaler geworden. Natürlich wird immer ein Kindskopf in mir existieren, das ist auch gut so, aber doch, ich habe mich verändert. Somit auch das Grundgefühl beim Schreiben. Damals war es oft auch direkte Kritik an irgendwelchen Personen oder Dingen, Texte, die ich mittlerweile so schlecht finde, dass ich sie vom Blog nehmen musste des guten Gesamtbildes wegen. Zum anderen Punkt führe ich an, dass mir der Blog sehr wohl beim Verarbeiten eines, sagen wir mal Tiefpunktes, geholfen hat, aber persönliche Dinge immer ihren Weg in weitere Texte finden werden, natürlich auch in den unterschiedlichsten Themengebieten.

Juracid: Nun, der Mensch entwickelt sich natürlich auch weiter. 655321, gestatten Sie mir eine persönliche Meinungsfrage: Sie sind 1990 geboren, wirken aber dennoch vom beruflichen wie persönlichen Leben bereits entsprechend geprägt. Glauben Sie, dass junge Menschen Ihres Alters in heutigen Zeiten schneller in eine Depression stürzen oder den Anschluss verlieren?

655321: Nicht, dass ich mich in einer Depression oder vergleichbarem stecken sehe, aber Themen wie ADHS, Depressionen und Burnout werden den Menschen heutzutage ja in die Wiege gelegt. Da werden Volkskrankheiten erfunden, damit sich auch jeder einzelne mit irgendeiner schrecklichen psychischen Krankheit identifizieren kann. Klar, Depressionen und die anderen genannten und ungenannten Dinge sind existierende, ernstzunehmende Krankheiten, aber nicht jeder ist ein Patient.
Ich selbst schätze mich jedenfalls als weitestgehend gesund ein, auch wenn böse Zungen gelegentlich anderes behaupten.

Juracid: Worauf ich in Ihrem Texten auch gestoßen bin, ist ein Eintrag über die schwarze Nischenkultur, im Volksmund "Gothic" genannt. Sie haben sich in diesem Bericht u.a. als Fan der punkorientieren EBM-Band "Deutsch-Amerikanische Freundschaft", kurz D.A.F., bekannt. Diese berüchtigte Band, Pionier auf ihrem Gebiet, ist ja hinlänglich für ihre umstrittenen Texte bekannt. Besonders das Stück "Der Mussolini" gilt als eine der nihilistischen Hymnen überhaupt und zieht jeden Kult wie Glauben durch die Mangel. Kann man somit davon ausgehen, dass Sie, 655321, Abstand von allen gängigen Weltreligionen nehmen? Und wenn ja, spiegeln sich nihilistische Anekdoten demnach auch in Ihren Texten wieder?

655321: Ein Buch-, Film-, und Musikkenner, nicht übel! Zuerst: Ja, ich stehe auf die Musik von D.A.F. Das aber nur als Randinformation. Richtig ist auch, dass ich Abstand von Weltreligionen nehme, ausgenommen natürlich Atheismus, wenn man diese Überzeugung denn unter der Rubrik Weltreligionen finden kann. Wie sich mein Abstand von Religionen bemerkbar macht, findet man beim Lesen meiner Texte schnell heraus. Oder hast du auf 655321 schon einmal etwas über Götter gelesen? Vielleicht ziehe ichs mal durch den Kakao, mehr aber auch nicht. Allerdings, und das möchte ich betonen, finde ich den Glauben als solches nicht negativ, wenn es einem hilft. Dahingehend wurde ich, auch von Menschen die es besser hätten wissen sollen, oft missverstanden.

Juracid: Dafür ist ja nun dieses Interview da, um solche Dinge einmal richtig stellen zu können. Da Sie Bücher ansprechen: Würden Sie sagen, man liest den Einfluss Dirk Bernemanns in Ihren Texten heraus?

655321: Merkt man es immer noch so sehr? Es ist ein offenes Geheimnis, dass Dirks erstes Buch dafür verantwortlich ist, dass ich jemals den Mut zum Schreiben gefasst habe. Er ist ein großes Vorbild für mich, damals wie heute. Wenn er tourt besuche ich seine Lesungen, lasse mir seine Bücher signieren und dass ich bei einem Text-schreibe-Wettbewerb von ihm gewonnen habe, weiß der interessierte Leser. Ich habe ihm auch die Adresse zu meinem Blog gegeben, wer weiß, vielleicht liest er auch dieses Interview. Ich habe schon vor 655321 gebloggt. Damals noch auf MySpace, da waren die Texte allerdings viel deutlicher von Bernemann geprägt, ja fast schon kopiert, als es heute vielleicht der Fall ist.

Juracid: Sind diese Texte für die Öffentlichkeit denn noch verfügbar? Denn sicherlich interessieren sich Ihre Leser auch dafür, wie der Autor hinter 655321 einst begonnen hat.

655321: Zum Glück sind sie das nicht mehr, nein. Ich besitze sie aber noch. MySpace hat sich auch damals sehr geweigert, von mir zu lassen, da musste ich zum Löschen des Kontos sehr kreativ sein, aber das ist eine andere Geschichte...

Juracid: Verstehe. Nun denn. Möchten Sie Ihren Lesern noch etwas mit auf den Weg geben?

655321: Ich lasse mich von Büchern und Filmen gern beeinflussen, und wenn ich einen guten deutschen(!) Film (Verschwende deine Jugend), in dem es unter anderem um die Kultband D.A.F. geht zitieren darf, dann sage ich abschließend:
Die Augen aufs Große und den Großen aufs Auge!




© Artwork by 'fauziazmi' (http://fauziazmi.deviantart.com/)