Samstag, 26. November 2016

MCMXC

»An einem Schreibtisch entsteh'n Gedichte und Genozide
Wenn man genau schaut, steckt in allem guten was negatives
Die schönsten Sachen sind noch tödlicher als nötig
Wenn man genau schaut, steckt in allem guten was böses«

Herr von Grau - Gedichte und Genozide


Ein Einzelkind soll Christian nicht bleiben, beide wünschen sich ein Geschwisterchen für den kleinen Stolz der Familie. Außerdem weiß Ellen wie es ist, als Kind allein zu sein. Dass das eine Grundlage für den Wunsch eines weiteren Kindes ist wird sie sich jedoch nie eingestehen. Detlef hat auch nichts gegen ein weiteres Kind mit ihr, zu stolz ist er auf den kleinen Christian und seine Ellen liebt er auch genug dafür. Also wird Ellen noch einmal schwanger.


Ellen hat zwei Brüder. In ihrer Kindheit waren die elterlichen Rollen klar verteilt. Ellens Vater kümmerte sich um den ältesten Sprössling, ihre Mutter war für den nächstgeborenen Bruder verantwortlich und als Ellen das Licht der Welt erblickte waren die frei zur Verfügung stehenden Elternteile bereits vergeben. Aber einen Großvater hatte Ellen, zwar durch die Erfahrungen von Krieg und russischem Gulag gezeichnet, trotz dieses Umstandes sehr liebevoll zu der kleinen Ellen. In ihm fand sie eine Bezugsperson, wenn Mama und Papa sich schon nicht ausreichend verantwortlich für sie fühlten.

Was Ellens Vater trotz der Distanz zu seiner Tochter sehr gut konnte, war, sie in ihrer freien Entfaltung einzuschränken. Das kleine Mädchen einfach so zu Freunden gehen lassen, wenn man nicht jederzeit nachschauen kann, was da so vor sich geht oder sie gar zu irgendwelchen Feiern zu lassen kam nie in Frage und wehe Ellen wagte es, sich ihrem Vater zu widersetzen. Natürlich hat sie seine Grenzen auf die Probe gestellt aber in den Sechzigern und Siebzigern war häusliche Gewalt noch ein ganz anderes Thema und so lernte Ellen schnell, dass sie sich dem Willen ihres Vaters besser beugt, so wie es ihre Mutter ebenfalls tut. Ellens Vater war ein Tyrann, der das Patriarchat verstand. Und so wusste Ellen, wenn sie eines Tages den Fängen ihres Vaters entflieht, dann möchte sie irgendwann einmal eine Tochter haben und alles besser machen. Frei soll sie sein und glücklich und lieb soll sie ihre Mama haben und Constanze soll sie heißen, ja, Constanze.


Am Ende der achtziger Jahre bekam man als Frau, bei der eine Schwangerschaft festgestellt wird, noch nicht sofort angeboten, das Geschlecht des Kindes zu erfahren. Entweder ließ man sich überraschen oder man erfragte eine entsprechende zahlungspflichtige Untersuchung. Ellen und Detlef sind sparsame und genügsame Menschen, also entscheiden sie sich dafür, sich überraschen zu lassen.

Natürlich hofft Ellen, dass sie nach Christian nun endlich ihren Wunsch nach einer Tochter erfüllt bekommt. Christian soll später einmal immer auf sie aufpassen, schließlich kann es doch so toll sein, einen großen Bruder zu haben, der einen schützt und aus Problemen herausboxen kann. Mehr als zwei Kinder möchte Ellen nicht haben. In ihr schlummert die Angst, eines ihrer Kinder könnte dasselbe Schicksal ereilen wie ihr und ein weiteres Kind könnte sich wie ein überflüssiges Wagenrad fühlen. Diesmal würde es keinen Großvater geben, der für ein drittes Kind verantwortlich sein könnte. Jedenfalls keinen, dem Ellen die Obhut eines Kindes anvertrauen würde, außerdem ist Ellen nachdem sie alt genug war, weit genug von ihrem Elternhaus weggezogen, um diese Situation gar nicht erst zu ermöglichen. Im Streit ging sie allerdings nicht, denn auf eine Konfrontation mit ihrem Vater hätte sie sich niemals eingelassen. Weder ist sie besonders streitlustig, noch mutig. Dieser Mann hat Frau, Kinder und sogar Schwiegervater geschlagen und tyrannisiert, nicht auszudenken, was er mit ihr anstellen würde, würde sie sich gegen ihn auflehnen. Ellen versteckt also ihre Wut auf ihre Familie und gelegentlich besucht sie ihre Eltern und Brüder, die sich selbst nie sonderlich weit von dort entfernt haben, sogar.


Christian wird nie auf sein Schwesterchen aufpassen.
Ellen weiß nicht einmal, ob das Kind, das sie da soeben verloren hat, überhaupt ein Schwesterchen geworden wäre. Was sie da erkennt ist nur ein blutgetränkter Zellhaufen, den sie hinter tränendurchtränkten Blicken ohnehin nur verschwommen sieht.
Aber sie wird es wieder versuchen, Christian soll dennoch kein Einzelkind bleiben und Ellen verdrängt ihre Trauer in einer weiteren Schwangerschaft. Wie man verdrängt hat sie bereits in ihrer Kindheit meisterlich gelernt.

Eines Tages stürzt die im sechsten Monat schwangere Ellen eine Treppe im Hausflur herunter. Zuerst ist ihre Sorge um ihr ungeborenes Kind groß, schließlich hat sie schon einmal ein Kind verloren ohne dazu gestürzt zu sein. Später wird sie diesen Vorfall eher scherzhaft erwähnen, denn ihr Kind wird davon unbeschadet drei Monate später zur Welt kommen.

Und so reicht man Ellen eines Mittwochs im Oktober 1990 ihr neugeborenes Kind und Christian bekommt sein Geschwisterchen. Und Detlef ist stolz auf sein jüngstes Kind. Nur Ellens Gesichtsausdruck hat etwas Merkwürdiges an sich. Sie freut sich ebenfalls sehr über das neue Kind, aber dass es ein Junge ist hat sie nun einmal auch gemerkt.

Also verwirft sie den Namen Constanze und hält plötzlich einen Andreas in ihren Armen.

Mich.




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