Dienstag, 9. November 2010

Kurzgeschichten #1: Straßenratte

Mein Leben ist überflüssig. Ich bin das, was andere Leute einen Penner, Abschaum oder Straßenratte nennen. Ich lebe… nein, ich vegetiere jetzt schon seit einigen Jahren auf den Straßen dieser angeblich so wunderschönen Großstadt in der es doch, so sagen die Leute, an jeder Ecke alles gibt, was das Herz begehrt. Mein Herz begehrt ein Dach über dem Kopf, mein Kopf begehrt das auch. Überhaupt begehre das im Allgemeinen ich. Das Schicksal hat es aber damals schon nicht gut mit mir gemeint und deswegen bin ich irgendwann hier gelandet. Seit dem versuche ich am Leben zu bleiben. Ein Leben kann man das eigentlich nicht nennen aber ich habe keine Idee wie ich diesen Zustand sonst betiteln sollte und überhaupt habe ich keine Lust darüber nachzudenken. Was ich allerdings durchaus habe ist Hunger. Wo andere Leute in die Taschen ihrer Designersackos greifen und ein dickes Portemonnaie herausnehmen um sich an der nächsten Fressbude eine Currywurst zu kaufen, die sie dann nur halb gegessen in den nächsten Mülleimer werfen, da suche ich besagte Überreste aus dem Abfall. Oftmals werde ich dabei gesehen und höre Dinge wie „Guck mal, der Penner holt sein Frühstück aus dem Kühlschrank“, wobei das noch einer der angenehmen Sätze ist. Früher fand ich das selbst ziemlich ekelhaft, aber Tiere schlachten ist auch ekelhaft und die ‚normalen‘ Menschen tun das, um etwas zum Essen zu haben, jedenfalls die, die sich nicht wie Kaninchen von Grünzeug ernähren, das sie ohnehin nicht sättigt, aber Hauptsache dünn sein und so. Ich bin dünn, eigentlich ist das noch schwer untertrieben, meine Rippen markieren große Rillen auf meinem Oberkörper. Ich habe wie immer nur diese Ungewissheit im Kopf. Ich weiß nicht, wann und ob ich meine nächste Mahlzeit bekomme. Ich beschließe erst einmal ziellos durch die Stadt zu laufen, vielleicht findet sich irgendwo so ein blasphemischer Typ im Mexikanrerkostüm der Fertigtachoprodukte verschenkt, vor ein paar Wochen hatte ich nämlich dieses Glück. Hab dem Typen den ganzen Tisch leergeräumt und bin dann um mein Leben gerannt während der Mann mir wild Steine hinterher warf und irgendwas brüllte wie „el vagabundo es muy mal!“, keine Ahnung was das heißt, klang irgendwie fast freundlich, der Sombreroträger sah aber nicht allzu nett dabei aus. Das war einer der glücklichsten Tage der letzten Jahre. Heute scheint nicht so ein Tag zu sein. Erschöpft setze ich mich an eine Hauswand und starre auf meine Füße. Da ist ein Schuh dran, jedenfalls wenn man die beiden Reste zusammen zählt. Ich höre ein paar Stimmen auf mich zukommen. Da stehen auf einmal 3 Burschen die mich angrinsen und irgendwelchen Kram erzählen während sie lauthals lachen. Das ist für mich nichts Besonderes mehr, das passiert einmal ein 3 Tagen. Was jetzt aber geschieht ist neu. Der Kerl in der Mitte wirft mir eine Münze vor die Füße und brüllt mich an: „TANZ!“. Ich zweifle kurz an seiner Intelligenz, denke mir dann aber, dass ich soeben für nichts um einen Euro reicher bin und tue ihm den Gefallen. Während ich also mein letztes Bisschen stolz aufgebe und die Jungs angrinse freuen sich die Kerle ihres Lebens und gehen. Ich bin froh, dass ich aus der Sache herauskam, ohne Blessuren davon zu tragen, das wäre nicht das erste Mal. Ich realisiere, dass ich jetzt etwas habe, um mir davon etwas zu kaufen. Ich besitze ein Zahlungsmittel! Das konnte ich seit Jahren nicht mehr von mir behaupten. Und siehe da, das erste was meine Augen infiltriert sind diese 2 goldenen Bögen, wobei mir das eher wie ein zerbrochener Heiligenschein aussieht, ein Zeichen Gottes? Aber den Glauben an diesen Kerl habe ich aufgegeben, zu oft habe ich gebetet diese Stadt mal wieder aus einem Fenster einer hübschen kleinen Wohnung zu sehen, für die ich einen Mietvertrag in der Hand halte. Ich betrete das Schnellrestaurant dessen Logo mich geradezu gerufen hat. Ich überprüfe die Situation: Ich habe einen Euro, die Speisekarte erlaubt mir eine Auswahl aus mehreren 1-€-Produkten. Ich entscheide mich für das Produkt mit dem maximal möglichen Inhalt. Ein Cheeseburger soll es also sein. Mir fällt schnell auf, dass ich den anderen Gäste unangenehm bin, deswegen mache ich es schnell, drängle mich vor, schreihe der Frau hinter der Theke „CHEESEBURGER!“ entgegen, werfe ihr die Münze zu, denke: „TANZ!“ und reiße ihr den Burger aus der Hand während ich aus dem Etablissement renne. Ich will keinem mehr optisch zur Last fallen also verkrieche ich mich in den nächsten Park, welcher für Leute wie mich berüchtigt ist und suche meine Lieblingsecke auf, ein schattiger Platz zwischen einigen Büschen der meist trocken ist, da die umliegenden Büsche und Bäume den meisten regen abfangen. Der warme Burger in meiner Hand fühlt sich gut an. Ich packe ihn aus seinem überflüssigen Papier aus und sehe ihn mir an. Plötzlich kommt da ein Gefühl in mir hoch, welches ich ewig nicht mehr verspürt habe. Der Burger, oder besser in diesem Moment: Die Burger, macht mich an. Die 2 Brotscheiben, zwischen denen Hackfleisch herauslugt erinnern mich an etwas, das ich früher sehr gerne gesehen, benutzt und im wahrsten Sinne des Wortes vernascht habe, damals, als ich noch nicht das war, was ich heute bin. Ein klitzekleines Gürkchen liegt auf dem Hackfleisch, so weit außen, dass man es sehen kann während der Burger zugeklappt ist, da hat jemand wohl bei der Arbeit geschlampt, aber umso mehr erinnert mich das Gesamte an eine weibliche Erogene Zone. Mein Hunger ist plötzlich nicht mehr spürbar. Viel mehr habe ich da ein anderes Gefühl knapp unter dem Bauch. Der Burger und seine Wärme machen mich geil. Es dauert nicht lange, bis ich nicht mehr widerstehen kann. Ich öffne meine Hose und stülpe mir das Teil langsam über meinen mittlerweile ziemlich hart gewordenen Schwanz, während ich einige Szenen aus meiner entfernten Vergangenheit Revue passieren lasse. Ich denke an das kleine süße Mädchen, welches mir damals meine Unschuld raubte und später stolz darauf war, dass ich es war, der ihre Haut der Unschuld durchbohrte. Heute ist das selbst für mich mehr als unglaubwürdig. Mein Gefühl intensiviert sich, es kribbelt und plötzlich ergießt sich eine ganze Menge weißer Suppe in den Burger. Mein Schwanz sieht lustig aus, eine Farbkombination aus Rot, Gelb und Weiß. Ich bin noch nicht Herr meiner Sinne, deswegen realisiere ich die Leute dort vorn nicht, die die Szenerie wohl beobachten konnten und nun völlig entsetzt fluchtartig den Park verlassen. Ich bleibe noch einen Moment im Gras liegen und grinse fast glücklich in den Himmel. Die Burger wird zärtlich von mir geküsst. Kurze Zeit später stehe ich auf, lege die Burger auf den Mülleimer vor der nächsten Parkbank und sage in mich hineinlachend „ich ruf dich an!“. Ich überlege mir, ob das der Grund ist, warum die Leute ihr Essen in den Müll werfen. Den Gedanken finde ich urkomisch und deswegen lache ich laut während ich den Park verlasse. Wohin es nun geht weiß ich wie immer nicht, was ich aber weiß ist, dass dieser Tag für mich tatsächlich schöner war, als tachobepackt vor einem brüllenden Mexikaner wegzurennen.