Sonntag, 8. Januar 2012

Esperanza

Ein Frühling der keiner ist, es wird nicht wärmer, es ist gleichbleibend kalt, eiskalt. Ein Gewitter, das nicht zur Freude beiträgt, und jeder Bewohner dieser Stadt versteckt sich Zuhause vor der Witterung. Und das ekelt das Mädchen, das da durchnässt in der kleine Hütte auf dem Kinderspielplatz sitzt an. Menschen, die sich vor dem verstecken, was einfach da ist. Oder Menschen, die davor die Augen verschließen. Esperanza hat diese Welt längst begriffen, viel zu früh hat sie viel zu viel begriffen, nur sich selbst begreift sie noch nicht. Esperanza hat Geburtstag und ist gerade 17 geworden.

Die Kälte ist ihr lieber als das, was andere „ihr Zuhause“ nennen, denn damit verglichen ist das Sitzen in dieser nur spärlich bedachten Hütte wie ein Saunabesuch. Sie raucht die dritte Zigarette am Stück, findet Rauchen aber ziemlich scheiße. Wut, jede Menge Wut. Esperanza will zerstören. Diese Stadt, diesen dreckigen Spielplatz, auf dem gelangweilte Jungmütter ihren Kindern am liebsten Triebtätern in die Hand drücken würden -schreien ja ohnehin nur rum, diese Blagen- aber vor allem sich selbst.

Esperanza ist das, was man Scheidungskind in spe nennen könnte. Sie hasst das, was ihre Eltern tun. Eine Beziehung nur noch auf der Basis des Besitzens eines gemeinsamen Kindes. Manchmal fragt sie sich, warum sie überhaupt gezeugt wurde. Kann man nicht einfach, bevor man sich für ein Kind entschließt, feststellen, ob man wirklich bereit ist, ein Leben bis zum Schluss zusammen zu führen? Sie spürt jeden Tag, dass ihre Eltern weder ehrlich zu sich, zum anderen Elternteil oder zu ihr sind, und das widert sie an. Wenn selbst die eigentlich direkten Bezugspersonen ihr auf diese Weise vermitteln, dass Lügen und solche Leben durchaus legitim sind, wie soll sie sich dann noch auf ihr Leben freuen? Und genau das fehlt ihr. Freude.

Und auch wenn Esperanza langsam die trockenen Zigaretten ausgehen, eine muss noch, mindestens eine. Ist zwar scheiße, geht aber nicht anders. Und sie denkt an ihren Vater, der Mann, der so gerne Überstunden macht und so oft Kollegen nach der Arbeit besucht. Wenn er dann irgendwann des Nachts wieder nach Hause kommt gibt er Esperanza manchmal noch einen Kuss und wünscht ihr eine gute Nacht. Esperanza wäscht sich danach immer ganz intensiv das Gesicht. Ihre Mutter ist nicht besser, aber durch ihre Nachlässigkeit auf eine skurrile Art ehrlicher. Nicht nur einmal hat Esperanza mitbekommen, dass sich ihre Mutter in den eigenen vier Wänden geholt hat, was sie ihrem Mann nicht mehr geben möchte. Als das zum ersten Mal vorkam hat Esperanza gelernt, dass keine Kopfhörer laut genug sind, um das zu übertönen, was in ihrem Kopf vorgeht. Irgendwann später an diesem Tag hat ihre Mutter sie angelächelt und Abendessen gemacht. Esperanza hat nicht gelächelt, und auf die Frage, was denn los sei, antwortete das junge Mädchen nur damit, dass es derzeit in der Schule etwas stressig sei. Hat man ja mal. Und das war zum Teil gar nicht mal gelogen. Sie lügt ohnehin ungern. So sehr sich ihre Eltern auch bemühen, sie weigert sich diese Lehre aufzugreifen und zu verinnerlichen.

Nach der 5. Zigarette stellt sie fest, dass ihr Weg sie heute nicht mehr nach Hause führt. Hat sich ohnehin nie wie ein Zuhause angefühlt. Nur wohin? Erst mal losgehen, da findet sich schon was. Der Weg weg ist das Ziel. Und so verlässt sie den alten Spielplatz. Es stürmt, der eiskalte Wind schmerzt ihrem Gesicht, aber diese Stadt schmerzt ihrem Leben, und deswegen hat sie auch diese bald hinter sich gelassen. Weiter, immer weiter, bloß weg hier, alles hinter sich lassen. Nicht einmal zurück denken. Auch wenn ihr bald jeder Schritt schwerer fällt, weil sie sich vor Kälte am liebsten einfach auf den Boden fallen lassen würde, sie geht weiter.

Am Rande einer Landstraße kann sie nicht mehr. Keine Reserven, unmöglich sich noch weiter fortzubewegen, sie läuft seit Stunden. Am ganzen Körper zitternd, die Arme zum Wärmespeicherversuch fest verschränkt, gebückte Haltung. Nicht mehr lange und sie bräche zusammen, als da neben ihr ein Wagen anhält und der zum Beifahrersitz herüber gebeugte Besitzer des Automobils die Beifahrertür öffnet. „Komm rein, du holst dir ja den Tod da draußen!“

Und was hat sie schon zu verlieren, also wird nicht lang überlegt und Esperanza steigt ein, der Wagen fährt weiter und sie mit ihm.
„Was machst’n du hier draußen so alleine?“
„Ich… ist egal, ich will nur weg hier.“
„Einfach so? Weiß jemand davon? Wie heißt du eigentlich?“
„Ich habe meine Gründe, und nein, niemand weiß davon, und wenn du mich verpfeifst oder so lauf ich einfach wieder weg, denk also besser gar nicht dran. Ach ja und Esperanza heiß ich. Und du?“
„Keine Sorge, hatte ich nicht vor… Und: Sag einfach Lobo.“



© Artwork by 'lolita-art' (http://lolita-art.deviantart.com/)

2 Kommentare:

  1. Diese Art von Text spricht mich mehr an als die Texte mit deinem Freund Harvey.

    Find ich extrem toll!

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  2. Versteh' ich. hab auch viel zu lang nicht mehr sowas in der Art gemacht. So viel gute Laune ist nicht gesund! Sehr geil, dass es dir gefällt! (Und der Harvey-Zweiteiler ist ja ohnehin fertig ;)

    Allerdings: 655321 FÜR Themenvielfalt!

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