»An einem Schreibtisch entsteh'n Gedichte und Genozide
Wenn man genau schaut, steckt in allem guten was negatives
Die schönsten Sachen sind noch tödlicher als nötig
Wenn man genau schaut, steckt in allem guten was böses«
Die schönsten Sachen sind noch tödlicher als nötig
Wenn man genau schaut, steckt in allem guten was böses«
Herr von Grau - Gedichte und Genozide
Ein Einzelkind soll Christian nicht bleiben, beide wünschen
sich ein Geschwisterchen für den kleinen Stolz der Familie. Außerdem weiß Ellen
wie es ist, als Kind allein zu sein. Dass das eine Grundlage für den Wunsch
eines weiteren Kindes ist wird sie sich jedoch nie eingestehen. Detlef hat auch
nichts gegen ein weiteres Kind mit ihr, zu stolz ist er auf den kleinen
Christian und seine Ellen liebt er auch genug dafür. Also wird Ellen noch
einmal schwanger.
Ellen hat zwei Brüder. In ihrer Kindheit waren die elterlichen
Rollen klar verteilt. Ellens Vater kümmerte sich um den ältesten Sprössling,
ihre Mutter war für den nächstgeborenen Bruder verantwortlich und als Ellen das
Licht der Welt erblickte waren die frei zur Verfügung stehenden Elternteile
bereits vergeben. Aber einen Großvater hatte Ellen, zwar durch die Erfahrungen
von Krieg und russischem Gulag gezeichnet, trotz dieses Umstandes sehr
liebevoll zu der kleinen Ellen. In ihm fand sie eine Bezugsperson, wenn Mama
und Papa sich schon nicht ausreichend verantwortlich für sie fühlten.
Was Ellens Vater trotz der Distanz zu seiner Tochter sehr
gut konnte, war, sie in ihrer freien Entfaltung einzuschränken. Das kleine
Mädchen einfach so zu Freunden gehen lassen, wenn man nicht jederzeit
nachschauen kann, was da so vor sich geht oder sie gar zu irgendwelchen Feiern
zu lassen kam nie in Frage und wehe Ellen wagte es, sich ihrem Vater zu
widersetzen. Natürlich hat sie seine Grenzen auf die Probe gestellt aber in den
Sechzigern und Siebzigern war häusliche Gewalt noch ein ganz anderes Thema und
so lernte Ellen schnell, dass sie sich dem Willen ihres Vaters besser beugt, so
wie es ihre Mutter ebenfalls tut. Ellens Vater war ein Tyrann, der das
Patriarchat verstand. Und so wusste Ellen, wenn sie eines Tages den Fängen
ihres Vaters entflieht, dann möchte sie irgendwann einmal eine Tochter haben
und alles besser machen. Frei soll sie sein und glücklich und lieb soll sie
ihre Mama haben und Constanze soll sie heißen, ja, Constanze.
Am Ende der achtziger Jahre bekam man als Frau, bei der eine
Schwangerschaft festgestellt wird, noch nicht sofort angeboten, das Geschlecht
des Kindes zu erfahren. Entweder ließ man sich überraschen oder man erfragte
eine entsprechende zahlungspflichtige Untersuchung. Ellen und Detlef sind sparsame
und genügsame Menschen, also entscheiden sie sich dafür, sich überraschen zu
lassen.
Natürlich hofft Ellen, dass sie nach Christian nun endlich
ihren Wunsch nach einer Tochter erfüllt bekommt. Christian soll später einmal
immer auf sie aufpassen, schließlich kann es doch so toll sein, einen großen
Bruder zu haben, der einen schützt und aus Problemen herausboxen kann. Mehr als
zwei Kinder möchte Ellen nicht haben. In ihr schlummert die Angst, eines ihrer
Kinder könnte dasselbe Schicksal ereilen wie ihr und ein weiteres Kind könnte
sich wie ein überflüssiges Wagenrad fühlen. Diesmal würde es keinen Großvater
geben, der für ein drittes Kind verantwortlich sein könnte. Jedenfalls keinen,
dem Ellen die Obhut eines Kindes anvertrauen würde, außerdem ist Ellen nachdem
sie alt genug war, weit genug von ihrem Elternhaus weggezogen, um diese Situation
gar nicht erst zu ermöglichen. Im Streit ging sie allerdings nicht, denn auf
eine Konfrontation mit ihrem Vater hätte sie sich niemals eingelassen. Weder
ist sie besonders streitlustig, noch mutig. Dieser Mann hat Frau, Kinder und sogar
Schwiegervater geschlagen und tyrannisiert, nicht auszudenken, was er mit ihr
anstellen würde, würde sie sich gegen ihn auflehnen. Ellen versteckt also ihre
Wut auf ihre Familie und gelegentlich besucht sie ihre Eltern und Brüder, die
sich selbst nie sonderlich weit von dort entfernt haben, sogar.
Christian wird nie auf sein Schwesterchen aufpassen.
Ellen weiß nicht einmal, ob das Kind, das sie da soeben verloren hat, überhaupt ein Schwesterchen geworden wäre. Was sie da erkennt ist nur ein blutgetränkter Zellhaufen, den sie hinter tränendurchtränkten Blicken ohnehin nur verschwommen sieht.
Ellen weiß nicht einmal, ob das Kind, das sie da soeben verloren hat, überhaupt ein Schwesterchen geworden wäre. Was sie da erkennt ist nur ein blutgetränkter Zellhaufen, den sie hinter tränendurchtränkten Blicken ohnehin nur verschwommen sieht.
Aber sie wird es wieder versuchen, Christian soll dennoch
kein Einzelkind bleiben und Ellen verdrängt ihre Trauer in einer weiteren Schwangerschaft.
Wie man verdrängt hat sie bereits in ihrer Kindheit meisterlich gelernt.
Eines Tages stürzt die im sechsten Monat schwangere Ellen eine
Treppe im Hausflur herunter. Zuerst ist ihre Sorge um ihr ungeborenes Kind
groß, schließlich hat sie schon einmal ein Kind verloren ohne dazu gestürzt zu
sein. Später wird sie diesen Vorfall eher scherzhaft erwähnen, denn ihr Kind
wird davon unbeschadet drei Monate später zur Welt kommen.
Und so reicht man Ellen eines Mittwochs im Oktober 1990 ihr neugeborenes
Kind und Christian bekommt sein Geschwisterchen. Und Detlef ist stolz auf sein
jüngstes Kind. Nur Ellens Gesichtsausdruck hat etwas Merkwürdiges an sich. Sie
freut sich ebenfalls sehr über das neue Kind, aber dass es ein Junge ist hat
sie nun einmal auch gemerkt.
Also verwirft sie den Namen Constanze und hält plötzlich
einen Andreas in ihren Armen.
Mich.
© Artwork by 'MD-Arts' (http://md-arts.deviantart.com/)
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