Samstag, 24. Dezember 2011

Heiligmorgen mit Harvey
oder:
Die kleinen Dinge II

Wir beide sind die wahren Romantiker unserer Zeit, das Wissen darüber teilen wir aber nicht mit jedem Dahergelaufenen. Undenkbar wie hoch das weibliche Interesse an uns wäre, würden wir unserem Sinn für Romantik permanent zeigen. Nein, wir genießen unser bescheidenes Leben und die selbstverständlich von uns hundertprozentig freiwillig gewählte Zurückhaltung unserer andersgeschlechtlichen Mitmenschen.

Wir wissen die Feste immer noch zu feiern, wie sie fallen, denn im Fallen kennen wir uns besonders aus. Und es ist Weihnachten, kalendarisch handelt es sich zwar gerade einmal um die ersten Stunden des 24. Dezembers, Heiligmorgen, wenn man so will, aber das nimmt uns nicht den Anlass, einmal mehr das Lokal unseres Vertrauens mit einem Besuch zu beehren.
Da unser Budget allerdings unter unseren spendablen Seelen zu dieser Festzeit gelitten hat, wird es kein exzessiver Abend/Morgen werden, wir gehen es ruhig an, auf die Frage der Bardame, was es denn geben dürfte, fällt dann schon mal vornehm und dezent der Satz „Bitte einfach das billigste Bier aus ihrem gehobenem Sortiment“.

Viel faszinierender als das Sammelsurium der auf der Getränkekarte befindlichen Namen der multikulturellen Alkoholika finden wir heute allerdings die gar besinnliche Weihnachtsdekoration des Lokals der Arbeiterklasse. Als kurzer Einwurf an dieser Stelle sei schuldbewusst angemerkt, dass wir zwar durchaus zur Arbeiterklasse gehören, es mit dem dazugehörigen Enthusiasmus aber nicht immer so genau nehmen. Man muss schließlich noch einige Jahre aushalten, wenn man noch so jung und schön ist wie wir, da ist es wichtig ausreichend Schlaf und Schonung zu beachten. Nicht auszudenken, würden wir unsere potentiell athletischen Körper jetzt schon irreparabel schinden.

Zurück zur Bühnenausstattung dieser Barkulisse, welche sich als kleiner Kranz um einen Flaschenhals, in welchem sich wiederum rote Stielkerzen befinden, darstellt. Da wurde an Authentizität nicht gespart. Spitze Überreste von Nadelbäumen machen den Großteil der kleinen Kränze aus, eine kleine Christbaumkugel hängt auch noch daran, und da kommt in uns beiden die Ideenschmiede ins Glühen.
Wie schön waren die Zeiten, bevor sich Spiele mit Fachbegriffen wie „Headshot“, „Frag“ oder „Fatality“ abspielten, also tun wir abermals was getan werden muss, wir nehmen unsere Pflicht als die um Untergrund agierenden Retter der Welt war und erfinden ein kleines Gesellschaftsspiel.

Wir arbeiten mit den im Lokal gegebenen Ressourcen, welche an dieser Stelle kurz aufgelistet werden sollen. Wir verfügen über diverse freundlich und vor allem unfreiwillig vom Etablissement gesponserte Packungen Streichhölzer, durch einen kleinen Versuch als äußerst brennbar befundene Nadelbaumerzeugnisse und der uns gegebenen Kerze in der Flasche.

Das Regelwerk ist schnell erstellt. Es gilt, nacheinander ein Streichholz oder wahlweise ein Stück Nadelbaum auf die Kerze zu legen, ohne, dass der Docht erlischt beziehungsweise bereits dem Wachs auferlegtes Heizgut zu Boden beziehungsweise Tisch fällt. Füchse der Disziplin Gesellschaftsspiel erkennen zweifellos, dass es sich hierbei um einen Hybrid aus den Spielen Jenga, Risiko und Mikado handelt, eine Prise Pyromanie ist bei genauerer Betrachtung des Regelwerkes durch aufmerksame Zuschauer und Mitspieler aber auch festzustellen.

Todesmutig beginnen wir mit dem ersten Prototypentest unseres wahnwitzigen Spieles für die ganze Familie und legen die ersten Streichhölzer und Nadeln auf die Kerze, welche besinnlich knistert und zur Freude des Tages glücklich zu flackern scheint. So viel materielle Zustimmung kann kein Zufall sein, also nehmen wir unsere Arbeit noch ernster und setzen das Testen fort.

Bald stellt sich heraus, dass wir in diesem noch so jungen Spiel Naturtalente sein müssen, ja, nur so kann es sein, denn nichts fällt und auch die Flamme der Kerze erlebt die dynamischste Zeit ihres Lebens. Da wir bei unserem Debutversuch aber an Aufmerksamkeit nicht zu sparen gedenken, fällt unschwer auf, dass sich die Lebenszeit des sehr vergänglichen Beleuchtungsverschleißgegenstandes drastisch verringert, ja, dass sie gar rasant ihrem Ableben entgegen brennt, dabei ist bisher kein Gewinner gefunden, und wir sind die Elite der Sportsgeistbesitzer und dürfen nicht zulassen, dass aus diesem Spiel kein eindeutiger Pokalbesitzer hervorgeht.

Da wird gezittert, angespannte Gesichter starren auf die Kerze und noch angespanntere Hände konzentrieren sich auf das fehlerfreie Einhalten des Regelwerkes. Wenige Sekunden, bis die Kerze ihr Lebensende erreicht hat und langsam macht Panik die Runde. Ein bisschen könnte man die Situation mit dem Ende einer Runde Schach vergleichen, bei welcher beide Spieler nur noch über einen König verfügen. Ein kluger Kopf gab einst den klugen Satz „Kings can't checkmate each other“ von sich, was auf uns nicht sonderlich beruhigend wirkt, da wir zweifellos die Könige dieser Nacht darstellen, bei dem schier selbstlosen und lebensbedrohlichen Versuch, der Menschheit ein neues Gesellschaftsspiel zu erdenken.

Doch plötzlich geschieht das ernste Wunder des mystischen Tages, nicht die heiligen drei Könige mit Myrrhe, Weihrauch und Gold kommen des Weges, nein, viel nötiger als diesen Plunder haben wir in diesem Moment neue Spielausrüstung, und da naht womöglich die Rettung, an die schon niemand mehr zu glauben wagte. Die Bardame kommt an unseren Tisch und sieht unsere Projektarbeit. Nachdem sie fragt, um was es sich dabei wohl handelt und wir es ihr ausführlich erklären, allerdings um Zurückhaltung eventueller Patentanmeldungen bitten, steht sie unserem Prototypen plötzlich sehr skeptisch gegenüber, schaut uns zwei Märtyrer noch skeptischer in die Gesichter und fragt, eindeutig mit Zweifel gegenüber unserer Zurechnungsfähigkeit in der Stimme, ob sie uns noch etwas bringen darf.
Ich ergreife meines Amtes waltend das Wort, und bitte die junge Maid freundlich um unseren Herzenswunsch. „Eine neue Kerze wäre nicht schlecht!“

Die Geschichte der Welt ist, wie wir alle wissen, auch von Verlusten der Menschen geprägt, die nur Gutes im Sinn hatten, und so sei ein kleiner Sprung unternommen, und ob des zwischenzeitlichen Geschehens lediglich erwähnt, dass die Dame und, wie sich herausstellte, auch der dazu geholte Besitzer des Lokales nicht von unserer Idee überzeugt waren, und unser Wunsch nach einer weiteren Kerze nicht erfüllt wurde. Gar der Örtlichkeiten verwies man uns, selbstverständlich erst, nachdem man uns für unsere Getränke zahlen lies. Dass auf der späteren Wikipediaseite unseres Spieles definitiv nicht mehr erwähnt wird, in welchem Lokal die Grundidee unseres Spiels unserer Weisheit entsprang steht nunmehr natürlich außer Frage.


655321 wünscht all seinen Lesern eine besinnliche Weihnachtszeit.



Donnerstag, 22. Dezember 2011

Fest der Nächstenliebe

Dezember, Vorweihnachtszeit, und auch ich möchte Menschen beschenken, die es verdienen, deswegen befinde ich mich in diesem 3-Etagen-Kommerzgebäude und suche nach etwas Besonderem für jemand Besonderen.

Die Länge der Schlangen vor den Kassen der Geschäfte lassen jede Netzpython (Python reticulatus) vor Scham im Boden versinken, Weihnachten muss sich dieses Jahr vollkommen unerwartet und kurzfristig angemeldet haben. Da wird hier über zu wenig Kassiererinnen geschimpft und dort sieht man total frustrierte Gesichter, die am liebsten ihre Taschen fallen lassen wollen und bebend vor Wut das Geschäft im Sprint verlassen und später in die Luft jagen wollen würden. Machen sie aber nicht, man hat ja Kinder, denen man anerzogen hat, dass Weihnachten Geschenkezeit ist, ein bisschen wie Geburtstag, nur ohne dem Datum auf dem späteren Personalausweis.

Ich suche eine Weile nach etwas passendem, bei dem die beschenkte Person weiß, dass es nur von mir sein kann, ja, ich mag lieber durchdachte Geschenke als Schnickschnack, so was bleibt doch viel besser und vor allem schöner in Erinnerung. Plötzlich sticht da etwas in meine Augen, es ist perfekt, es ist brauchbar, es ist sogar ein bisschen witzig und vor allem passt es zu mir und zum Beschenkten, abgefahren. Muss ich haben. Muss ich verschenken. Großartig.

Ich befinde mich kurz darauf am Ende oder am Anfang der Schlange –Gott weiß, ob die Kassen nun am Kopf oder Schwanzende sind- , und wieder höre ich das Schimpfen und Echauffieren über das Warten, über den Weihnachtsstress, über einfach alles, und da bemerke ich, dass sich einige Muskeln in meinem Gesicht anspannen, ich grinse. Ich grinse sogar richtig breit, und als die übergewichtige Dame hinter mir nervös mit ihren zu kleinen Füßen herumwackelt, weil sie wohl auch nicht gerne wartet, da tritt sie mich aus Versehen leicht in an meinen Eigenen Füßen und ich drehe mich um. „Na, na, na!“ sage ich, immer noch breit strahlend und sie brummt ein „‘Tschuldigung“ daher, Humor liegt ihr ferner als Korea die Demokratie, aber das stört nicht, ich bin gut drauf, ich kann nicht mal genau sagen warum, vielleicht, weil ich Urlaub und vor allem viel Zeit für meinen Einkauf habe, vielleicht aber auch, weil ich wohl der Einzige in dieser Schlange bin, der nicht kauft, weil er glaubt es zu müssen, sondern weil ich einfach sehr glücklich bin, wenn ich der bald beschenkten Person eine Freude machen kann. Genau genommen freue ich mich schon jetzt wie ein kleines Kind, dass jemand sich über etwas von mir freuen wird.
Manchmal bin ich Gutmensch.

Nach ein paar Minuten erreiche ich die Kasse und sage der Dame hinterm Tresen, dass sie mir etwas leid tut, wegen dem ganzen Stress, den sie hat, weil sich andere welchen machen. Außerdem könne sie sich bei mir gerne etwas Zeit lassen, ich habe genug davon, sage ich noch. Sie grinst mich an, wirkt etwas froh darüber, so viel Vernunft von einem Weihnachtszeitkunden zu hören, der dazu auch noch so jung ist wie ich, wo doch die Jugend, die böse, schlimme Jugend, als so unvernünftig gilt.
Ich zahle anständig, selbstverständlich mit Karte, das verschafft der netten Dame noch ein paar wertvolle Ruhesekunden, wünsche dann schöne Feiertage und verabschiede mich, während ich ihr noch das wohl letzte Kundengrinsen des Tages schenke.

Auf dem Gang zwischen den Geschäften zur Linken und zur Rechten läuft ein Mann in Rot herum, er trägt eine Art Mantel, einen auffällig künstlichen Wattebart, einen schwarzen Gürtel, schwarze Stiefel, eine rote Zipfelmütze und vor allem einen ockerfarbenen Sack über der Schulter.
Der Mann visiert die schreienden Kinder an, die ihre Eltern durch die Geschäfte ziehen wollen und ihre armen Schutzbefohlenen mit Sätzen wie „Guck mal, guck mal Mutti, die Softgun, die wollte ich schon immer haben“ oder „Oh, Mutti, Mutti, da drüben, das BMX, das wollte ich schon haben, bevor ich die Softgun haben wollte“ malträtieren. „Möchtest du nicht viel lieber das tolle Feuerwehrauto haben, oder was Tolles von Lego?“ – „Mutti, ich bin 9!“.
Ich habe Kinder noch nie so wirklich gemocht.

Der Mann in Rot sucht sich aber auch noch viel jüngere Menschexemplare aus, die dann schreiend vor ihm wegrennen, meistens Richtung Vater, hinter welchem sie sich dann verstecken und böse auf den armen Kerl zeigen, der doch nur Gutes beabsichtigt.
„Hast du etwa Angst vor mir?“ fragt der Falschbärtige, worauf das Kind wild mit dem Kopf nickt. Damit ist der Punkt erreicht, an dem ich mich dazwischen entscheiden muss, ob ich die Undankbarkeit von Kindern jetzt zum Kotzen finde, da sie sich einen Dreck für den freundlichen Mann, ganz besonders aber für die Geschenke interessieren, die er ihnen angeblich bringt, oder ob ich das alles einfach schnell wieder aus meinem Kopf lösche und die Dummheit des Kindes auf seinen geringen Erfahrungsschatz und sein geringes Alter schiebe.
Letzteres, es ist ja Weihnachtszeit, und so...

Dieser Vorgang wiederholt sich noch ein paar Mal und Nikolaus, Knecht Ruprecht, Hans Muff, Schmutzli oder wie auch immer ihn der Volksmund gerade nennen möchte wirkt sichtlich enttäuscht von der allgemeinen kindlichen Angst und Undankbarkeit, der arme Kerl möchte doch nur das, was seinen Jutesack so schwer macht an die Bälger weitergeben und damit sein Kreuz entlasten.
„Wenn ich mal sterbe, dann hoffentlich als Held“ habe ich als Kind einmal gesagt, das hat sich meine Mutter über viele Jahre gemerkt und mir irgendwann einmal erzählt, und zu meinem Wort stand ich schon immer, also muss ich tun, was ein Mann wie ich tun muss. Ich gehe zu dem Kerl, dem böse Zungen anhängen, er verdanke seinem Outfit einem Softdrinkhersteller, und halte meine Hand zum high five bereit. „Grüß dich, Santa!“ und schon habe ich den Weihnachtsmann zum Lächeln gebracht. Irgendwie ironisch. Der Kerl ist mir derart dankbar, dass er selbst mir realitätsaufgeklärten Knaben eines seiner Geschenke übergibt, „Netter Kerl“ denke ich noch, während ich mich freundlich bedanke und dem Herrn einen schönen Urlaub nach den Feiertagen wünsche.

Als ich Zuhause ankomme packt mich dann die Neugier darüber, was sich wohl in dem kleinen Päckchen verbirgt. Die Verpackung ist für einen derartigen Massengeschenksack unerwartet aufwendig gestaltet, ordentlich gefaltet und schön verziert, ist mir vorhin, als ich das Geschenk bekam gar nicht aufgefallen. Eine Schande, dass ich diese Verpackung aufreißen muss, aber ein Mann muss tun, was… Und so weiter. Als ich diesen tragischen Akt des Altpapiererzeugens hinter mich gebracht habe finde ich darin eine Tafel Schokolade der einzigen Sorte, die ich mag, die mit den ganzen Nüssen, eine Blu-ray einer Staffel meiner Lieblingsserie und einem A5-Umschlag.
„Strange, äußerst strange“ denke ich, öffne aber den Umschlag, vielleicht finde ich darin Aufklärung.

„Vielen Dank für ein Lächeln und einen angenehmen Moment, hoffe dass ich mich angemessen revanchieren konnte, bis zum nächsten Mal - Santa“.


Mittwoch, 7. Dezember 2011

Und du sagst ich sei nichts Besseres

Als ich noch ein Kind war und diese Schule besuchte, die junge Menschen noch allgemein bildete, da gab es diesen Jungen, diesen Jungen gab es da und sehr viele andere Jungen. Zu seinem Unglück mochten die vielen Jungen den einen armer Kerl nicht und den Gesetzen der Hackordnung zufolge war es ihm vergönnt, eine angenehme Schulzeit genießen zu dürfen. Die traurige Situation des Knaben machte mich früh darauf aufmerksam, dass ich etwas besitzen musste, was die anderen nicht zu kennen schienen: Empathie. Und so erschien es als logisch, dass ich den armen tropf nicht alleine der auf ihn gerichteten Schikane ausgesetzt lassen kann, sondern mich auf seine Seite schlagen musste, denn geteiltes Leid ist bekanntlich halbes Leid, und dass ich meine Gunst bei den anderen verlieren würde stand außer Frage. Dummerweise musste ich feststellen, dass das Prinzip des geteilten Leides in dieser Situation nicht funktioniert, da die Grausamkeit von Kindern gerne ein einzelnes Individuum anvisiert. So war die gesammelte Entschuldigung schnell bei dem nun glücklichen weil akzeptieren Burschen eingetroffen und ich war plötzlich sehr alleine.
Der Mangel an anderer Leute Empathie blieb einige weitere Jahre bestehen.
Und du sagst, ich sei nichts Besseres.

Wo ich gerade bei Empathie bin; Empathie ist etwas, dass sich nicht jeder an- aber niemand abtrainieren kann. Da saß vor einigen Tagen dieser Typ auf der Straße, nicht allein sondern wärmeteilend an seinem Hund. Der Hund hatte sicherlich schon gepflegtere Zeiten erlebt, muss sich den optischen Trend aber an seinem Herrchen abgeguckt haben, welcher ein Leistungssportler in dieser Disziplin sein musste. Dieser Mann schien außen den Fetzen an seinem Körper und dem Hund an seiner Seite nichts zu besitzen, und selbst Dinge, die zu seinem Körper gehören sollten, glänzten durch ihre Abwesenheit, und hierbei sei nicht nur von Zähnen gesprochen. Das brachte mich zum Nachdenken, mich, demjenigen, der sein leichtes Hungergefühl in der nächsten Filiale der goldenen-Bögen-Gruppe zu stillen gedachte. Plötzlich hatte ich gar keinen Hunger mehr, eher war mir äußerst unwohl, und so nahm ich den roten Schein, welchen ich auszugeben plante und gab dem armen Armen ein kleines Stück Papier, welches er gegen ein kleines Stück Leben eintauschen könne.
Errechnet man den Anteil meines übergebenen Budgets prozentual gesehen von meinem Gesamtkapital, so ist es durchaus möglich, dass ich gerade mehr von meinem Besitz für Menschen gegeben habe, die nichts besitzen, als es die meisten reichen Menschen in ihrem Leben tun.
Und du sagst, ich sei nichts Besseres.

Und dann gibt es da diese Menschen, die etwas darstellen wollen. Etwas darzustellen empfand ich schon immer als sehr wichtig, vor allem wenn es darum geht, das eigene Individuum darzustellen. Die Menschen, welche ich hier erwähnen möchte liegt aber nichts ferner, als sich selbst und ihre Leistungen darzustellen. Sie suchen sich etwas, das zu hinterfragen die wenigsten willens sind, und ergötzen sich daran, dass sie das Geld haben, sich in dieser Lüge die möglichst am stärksten strahlende Maskerade anzulegen. Fragt man sie, was sie denn darstellen, keiner sagt sich selbst, sie fangen an Worte vor sich herzustammeln, weil sie diese Frage all ihre Synapsen zur Staustufe rot bringen.
Und du sagst, ich sei nichts Besseres.

Und, fast hätte ich’s vergessen, da wärst ja auch noch du. Du, welche einmal ihr Herz an mich verlieh, während ich ihr das meine schenkte. Und ich dachte etwas Besseres als das sein zu müssen, was du erlebtest, also liebte ich beispiellos, grenzenlose Treue stand außer Frage, alles was ich besaß sollte auch dein sein, und das hast du gerne akzeptiert, solang es nur in eine Richtung galt. Und ich wollte das sein, was die Mehrheit der Frauen als entweder nonexistent oder homosexuell bezeichnet: Ein netter Mann. Dass Freundlichkeit ein Fehler sein kann sollte ich in den darauffolgenden Monaten immer deutlicher erfahren, denn alles was du meiner Liebe entgegenzubringen bereit warst, war, dass es dich immer mehr nervte, dass ich nicht war, wie es andere Männer sind. Dass du diejenige warst, die diesen Zustand am Ende nicht mehr auszuhalten bereit war, verleiht dem ganzen noch einen weiteren Schuss Ironie.

Und immer noch sagst du, ich sei nichts Besseres.

Sonntag, 4. Dezember 2011

Die kleinen Dinge

Es ist eine verhältnismäßig warme Nacht im Dezember als Harvey und ich beschließen, dass solche Wunder der Natur nicht allein zu Hause genossen werden sollten, sondern zumindest ein kleines Kollektiv solch ein Ereignis zu würdigen haben müsse.

Ich fahre also weniger später in Harveys Heimatstadt, unweit meiner Dorfidylle entfernt, und wir prallen wenig später an seinem Lieblingstreffpunkt aufeinander, seine Wohnung. Das ist besonders okay für mich, weil Harveys Wohnung eine Willkommenheit ausstrahlt, die ihresgleichen sucht, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie zumeist eine Ordnung ausstrahlt, die sonst nur die Veteranen unter den Asylwohnungen aus ihren schlimmsten Zeiten noch zu berichten wissen. Allerdings ist das Arsenal an Spirituosen und anderen bewusstseinserweiternden Alkoholika immer prall gefüllt und gleicht, wir bleiben bei Militärbegriffen, einer hervorragend ausgerüsteten Waffenkammer.

Besonders okay ist der Treffpunkt aber auch für Harvey, da es genau der Entfernung entspricht, die er gerne maximal zurücklegt, um einen Abend wie diesen zu huldigen, Harvey war schon immer ein großer Fan der Natur.

Wir fackeln nicht lange, der Fleiß ist uns beiden kilometerweit entfernt anzusehen, und beginnen zügig mit der Respektsbekundung, indem wir eifrig einige der edlen Tropfen zum Ehre gebürtigen Aussprechen eines kurzerhand erdachten tiefgründigen und vielleicht auch etwas sentimentalen Toastes kurz emporheben und anschließend zweckkonform unsere Lippen benetzen lassen.

Nach einigen Gläsern, und wir haben bereits bewiesen, dass unsere Trinksprüche aufrichtig waren, was langsam aber sicher auch an unserer Mimik und der Gesprächslautstärke zu bemerken ist, entfällt Harveys Mund der Wunsch, doch lieber die Lokalität gegen eine -der Feierlichkeit angemessenere- einzutauschen, und da ich unsere langjährige Freundschaft zu schätzen weiß, respektiere ich selbstverständlich sein Bedürfnis und wir suchen unsere, nur wenige Gehminuten entfernte Lieblingskneipe, das „fkd’p“, auf, um auch dort die frohe Kunde über das Motto unserer Feierlichkeit zu verbreiten.

Auch die Bardamen wissen unseren Enthusiasmus zu schätzen, nicht zuletzt aufgrund Harveys Talentes mit Frauen umzugehen. Eines Dichters und Poeten Freundes würdig jongliert er mit seinen gott- oder muttergegebenen Vokabeln, als könne er dadurch den Mayakalender umschreiben um der Menschheit einen Tag mehr Lebenszeit zu ermöglichen. Allerdings ist das nicht das Ziel Harveys, genau genommen tangiert ihn weder die Lebenszeit der Menschen im Allgemeinen als derartige Weltuntergangstheorien im Speziellen. Wenig später fällt auf, dass unsere Getränke sich immer schneller leeren, aber auch die Wartezeiten auf die jeweils nächsten Getränke auffällig kürzer werden, was zweifellos Harveys Charme zu verdanken ist.

Das Display meines Smartphones, denn wir sind ja modern, verzichten auf Chronomaten an den Handgelenken, aber nicht auf das Internet in der Hosentasche, verrät uns, dass wir längst die ersten paar Stunden des auf die letzte Nacht folgenden Tages hinter uns gebracht haben, was die These bestätigt, die ich durch Harveys stark verlangsamte Augenaufschlagfrequenz für meine ganz persönliche Studie aufgestellt habe, und da ich stets bemüht bin der Bezeichnung „Wahrer Freund“ ein möglichst perfektes Beispielsubjekt darzubieten, frage ich Harvey, ob wir die Feierlichkeiten nun beenden möchten, um sein Reich aufzusuchen und dort akzeptierend und vor allem nächtigend auf den Kater zu warten, welcher uns nach dem Schlaf zweifelsfrei heimsuchen wird, „Apropos muss ich bei dir pennen!“ füge ich noch hinzu. Harveys darauf folgende Geste symbolisiert mir unschwer erkennbar, dass er einverstanden ist, also erheben wir uns, so gut wir das noch können und bewegen uns zum Tresen um Urkunden unseres Durstes einzuholen. Selbstverständlich geben wir angemessenes Trinkgeld, denn zum Trinken gab es reichlich, danken für wenig Speis‘ und viel Trank, und während ich zu meiner Jacke greife um mich, für die sicherlich mittlerweile doch sicherlich gesenkte Außentemperatur, zu rüsten, tauscht Harvey noch schnell seine Handynummer mit der Nummer der Bardame aus. Ich bin immer wieder überrascht, wozu dieser junge Heroe imstande ist, selbst wenn er sich parallel im betrunken, sowie im halb schlafenden Zustand befindet.

Ein gelungener Abend, so denken wir, gönnen uns noch ein letztes Glas in Harveys gemütlichem Wohnungsambiente und betten uns anschließend in Bett und Couch.


Montag, 24. Oktober 2011

Vollkommen unvollkommen verkommen

Auf meinen Profilen in den sozialen Netzwerken schreiben mir Menschen, die mich das letzte Mal vor ziemlich genau 365 Tagen kontaktiert haben. Entweder zwingt sie ihr Gewissen, oder sie haben zu großen Respekt vor der Autorität ihrer Geburtstagserinnerungsfunktion.

Seit einigen Stunden habe ich keinen gültigen Personalausweis mehr, und weil ich es schon fast spannend finde, was passiert, wenn darauf irgendwer aufmerksam wird, habe ich auch nicht vor mir einen aktuellen Ausweis ausstellen zu lassen.

Zum ersten Mal in meinem Leben sind wirklich alle Gäste da, die ich eingeladen habe. Sogar mein Wunsch, bitte keinen Kuchen oder anderes Zeug zu bekommen, dass ich ohnehin nicht verwerten kann, wurde von allen Anwesenden respektiert.

Man hört Musik, gerade zum Beispiel Lawrence, trinkt Club-Mate weil das Kult ist und wir verkrümeln fettige Kartoffelerzeugnisse auf meiner Couch bei dem kläglichen Versuch, ausnahmsweise einmal Chips verlustfrei zu essen. Hat noch nie so wirklich funktioniert.

Keiner stört sich daran, dass wir keine Gesellschaftsspiele oder ähnliches brauchen, um den Tag okay zu finden, manchmal liest sogar einer ein Buch oder tanzt für sich alleine zu Musik, zu der wohl kein anderer als er tanzen würde.

Manchmal vibriert mein Handy und Leute. Die Leute nicht anwesend sind, schreiben mir ihre Glückwünsche, selbstverständlich auf mindestens 160 Zeichen gekürzt, so viel Geiz muss sein!
Auch per SMS schreiben mir Menschen, die sonst keinen Kontakt mit mir pflegen, ihre gewissensberuhigenden Freundlichkeiten.

Während ich bemerke, dass Lawrence‘ Lied „fifteen minutes with you“ nur 5 Minuten und 58 Sekunden lang ist, stelle ich mit einem Blick in den Raum fest, dass eine Person, die zwar nicht eingeladen aber durchaus erwünschst ist, deutlich durch ihre Abwesenheit auffällt was mir ziemlich missfällt. Das macht den ganzen Tag sehr unvollkommen.

Ich beschließe, dass die Couch gerade zu frei ist, um glücklich über die Erfüllung ihrer Lebensaufgabe zu sein, also verhelfe ich ihr zur Zufriedenheit und nehme die gesamte Liegefläche ein, wird schon keinen stören. Während die Platte, die gute Platte, dank der endlosen Repeatfunktion mit ihren eventuell auftretenden Schwindelanfällen leben muss, genieße ich das, was sich auf ihr befindet, gute Musik nämlich.

Bis auf dich ist heute wirklich jeder hier, den ich hier haben möchte, und während ich mit einem Blick auf den leeren Raum meine Flasche zum Mund führe, proste ich mir noch leise zu, trinke dann einen Schluck und schließe einfach die Augen. Happy Birthday.


Dienstag, 11. Oktober 2011

Wir, Raven und Ich

Weil es dir gehört, finde ich sogar das Handy toll, was du hier gerade als Ghettoblaster missbrauchst. Eigentlich nervt mich so was, aber du nervst mich nicht, und viel verwunderlicher ist, dass ich dich nicht nerve. Es ist nicht mal die Art von Musik, die ich gerne höre, die du da abspielen lässt, irgend so ein „Kasper“ oder so sagst du, als ich nachfrage. Und mit dir schmeckt mir sogar mein Bier, wobei ich doch eigentlich gar kein Bier mag, das nicht mit Limonade oder anderen Substanzen versetzt wurde, bevor man es in eine Flasche stopfte, in der sich das arme ehemals so stolze Standardbier jetzt seinen Platz mit diesem Sodateenie teilen muss. Wir reden über Gott und die Welt, über Zukunft, Vergangenheit, über Träume und nicht selten über Schwachsinn, aber natürlich ebenso über Menschen und sogar über Frauen.

Und wir finden beide gerade Frauen ziemlich scheiße, aus ähnlichen Gründen. Du sagst, dass du dir Sorgen um deine Zukunft machst und ich verstehe das, weil es mir nicht anders geht. Wir bemerken fast zeitgleich, wie klasse wir es finden, verstanden zu werden und zu verstehen.

Und du machst auf Stammtisch, lässt dein Bier durch deinen Hals Laute von sich geben und schmeißt „Scheiß Weiber!“ in die Runde. Von jedem anderen fände ich das ziemlich kleingeistig, von dir aber nicht. Damit schließen wir beide sogar etwas glücklich das Thema ab.

Wir schwanken schwankend zwischen Tanzen auf dem Parkplatz und Klauen im 1-€-Shop, entscheiden uns dann aber für die erste Option, da wir mittlerweile so viel getrunken haben, dass sich ein Diebstahl (sei er noch so lächerlich) aus erfolgsorientierter Sicht nicht mehr lohnt und beim Tanzen zu schwanken ist ja gar nicht so kontraproduktiv, denken wir. Ich öffne also alle Türen meines blätterteigartigen Rostwagens, mache das Autoradio an und die krächzende Qualität meiner „Anlage“ verwöhnt uns mit musikalischen und auch lyrischen Ergüssen.

Wir, raven, ich. Nine Inch Nails, Daft Punk, K.I.Z., Tocotronic, Frittenbude, wir wollen abgehen zu Musik, die Grenzen überschreitet. Limits fanden wir beide schon immer unnötig. Die Menschen, die uns Blicke zuwerfen, die Bände sprechen, denen schenken wir unser Mitleid, weil wir es sind, die gerade ihre Jugend genießen. Und ihre Freundschaft. Unsere Freundschaft.

Und als wir, immer noch musikalisch erleuchtet, an meinem Auto gelehnt sitzen und uns mit weiteren glücklich machenden Getränken Energie zurückholen, da kommt mir wieder in den Sinn, dass du bald nicht mehr da sein wirst. Weil du da diesen Job bekommen hast, den du dir so sehr gewünscht hast, den ich dir so sehr gewünscht habe. An deinem Blick erkenne ich, dass du an meinem Blick erkannt hast, dass ich wieder daran denke, und du sagst nur „Alter…“ und ich sag nur „ach, nützt ja nix“, und du machst dieses Gesicht, dieses Lächeln zu einem Thema, dass wir beide nicht mal ansatzweise zum Lächeln finden. Du weißt, dass ich Dinge wie „wir verlieren uns ja nicht ganz aus den Augen!“ nicht hören will, also sagst du sie nicht. Außerdem willst du mich nicht anlügen. Wir sind der Höhepunkt in einem Drama über Freundschaft ohne Happy End, aber genau diesen Höhepunktwollen wir genießen

Es ist 2 Uhr morgens als du sagst, dass es Zeit ist, diese Nacht ausklingen zu lassen. Ich muss nicht fragen, ob du eine schöne Idee dafür hast, du hast immer Ideen. Ideen zum wieder Aufbauen, Ideen zum Spaß haben, Ideen um Momente unvergesslich zu machen. Also jagen wir irgendeinen von vielen Menschen mit irgendeinem von vielen Namen auf irgendeinem von vielen Klingelschildern aus seinem Bett, weil wir besagte Klingel so lange drücken, bis seine Stimme durch den Sprecher ein geschwollenes „hm?“ von sich gibt. Dann rasselst du in einer Geschwindigkeit, die selbst mich neidisch werden lässt, einen Text runter, dessen Inhalt irgendetwas mit „Schlüssel verloren“ in sich trägt. Das ergibt zwar nur wenig Sinn, aber der Mensch möchte wohl schnell wieder in sein Bett, öffnet uns die Tür des vielstöckigen Wohnblocks und wir benutzen den Fahrstuhl ins höchste Stockwerk. Du musst schon mal hier gewesen sein, denn du scheinst dich auszukennen. Jedenfalls weißt du, welche Tür von hier aus auf das Dach führt, und dass sich der Schlüssel für diese Tür in einem Blumentopf auf einer Fensterbank im Treppenhaus befindet.

Langsam gehen wir an den Rand des Gebäudes, während du aus deinem Rucksack noch 2 Flaschen holst, die wir brüderlich teilen werden. Als uns nur noch ein Schritt von einem freien Fall auf freien Asphalt trennt, bleiben wir stehen.

„Wow“ sagen wir fast gleichzeitig, den Blick auf diese von Straßenlaternen erleuchtete Stadt gerichtet. Dann sagen wir eine ganze Weile lang nichts. Da ist wieder dieser Blick in deinem Gesicht, und du schaust kurz rüber und sagst „jetzt schau halt nicht so traurig!“. Das finde ich irgendwie melancholisch witzig, dachte ich doch eben genau das Gleiche.

Dann ist wieder Ruhe. Deine Flasche ist leer und du wirfst sie soweit du kannst vom Gebäude, man könnte fast meinen, du seist wütend, aber dein Gesicht ist weggedreht. Ich leere meine Flasche auch, stelle sie aber nur neben mich. Du warst schon immer sportlicher als ich, wäre ja peinlich.

Und dann unterbrichst du ganz leise die Stille, und du sagst „Ich werd‘ dich vermissen, man…“.
Reflexartig greife ich nach meiner Flasche und was dann passiert lässt mich heute noch glauben, alle Rekorde gebrochen zu haben…

Mittwoch, 28. September 2011

Der Brief

Was folgt, ist das Resultat des Aufrufes von Dirk Bernemann, welcher beinhaltete, dass ihm seine gewinngeilen Leser einen Text über das (frei interpretierbare) Thema 'Behinderung' schreiben dürfen. Die 5 besten Einsendungen erhielten freien Eintritt zur Lesetour, das Tourplakat und das Shirt zum neuen Buch "Trisomie so ich dir".

Dies ist meine Einsendung und einer der 5 Gewinnertexte.


Lieber Martin,

es tut uns weh, diese Worte zu schreiben, auch wenn du das nur schwer glauben kannst und guten Grund hast, uns zu hassen, doch ich möchte wenigstens versucht haben, unsere Entscheidung zu erklären…

Dein Vater und ich, wir hätten niemals Angst um dich haben müssen, wenn du leichtsinnig auf dem Spielplatz gewesen wärst, wenn du etwa auf einer Kletterburg am Geländer herumgeturnt hättest…

Wir hätten nie in die Schule fahren müssen, damit uns dein Lehrer darüber unterrichtet hätte, dass unser sehr lebhafter Sohn Mädchen am Zopf zieht, oder vielleicht sogar dieses ADHS hat, was heute jedes Kind automatisch bekommt, welches Spaß am Leben hat…

Unsere Wohnung hätte sich nie verändert, da alle Sachen heil geblieben wären, nie wäre etwas durch deine Unvorsichtigkeit zu Bruch gegangen…

Niemals hätten sich die Nachbarn über unseren Spross beschwert, sicher hättest du auch deinen Körper nicht durch verrückte Frisuren, Haarfarben oder Metallteile verunstaltet oder wärest schon als Teenager mal betrunken nach Hause gekommen, vielleicht sogar in Polizeibegleitung…

Nie hätten wir dich ermahnen müssen, mit den Mädchen zu warten, oder aufzupassen, was du mit ihnen tust, vielleicht hätten wir auch nie Gespräche über Liebeskummer mit dir führen können…

Wir hätten uns nicht vor Aufregung die Haare raufen müssen, weil unser Sohn in eine viele Kilometer entfernte Stadt fahren möchte, um sich dort mit einem Freund ein Fußballspiel, eine Videospiel-/ oder Buchmesse oder einen Freizeitpark anzusehen…

Deine kleine Schwester hätte nie zu uns kommen müssen, weil ihr großer Bruder sie mal wieder geärgert hat…

Ein Leben ist dazu da, es vollkommen nutzen zu können, das ist und war immer unsere Meinung.
So viel wäre dir entgangen, so oft wärest du traurig gewesen, dass du nicht bei Spielen, Feiern oder anderen Dingen hättest mitmachen können.

Sicher, nicht alle Freuden des Lebens wären dir entgangen, doch für immer eingeschränkt sein? Das wollten wir dir nicht antun. Es vergeht trotzdem kaum ein Tag, an dem wir nicht an dich denken, bitte Verzeih uns die Entscheidung, die wir trafen.

Als uns der Arzt sagte, unser Kind würde sich niemals richtig entwickeln, niemals das Sprechen oder gar laufen lernen und immer eine Begleitperson brauchen, niemals einen Sinn für Privatsphäre entwickeln könne, da entschieden wir nach tränenreichen Tagen, so ein Leben ist dein Leiden nicht wert…

Wir werden dich immer lieben, niemals die Freude vergessen, die wir hatten, als ich schwanger wurde. Bitte, nochmal, verzeih uns…

In Liebe

Mama, Papa, Martina…


Montag, 19. September 2011

Neulich im Nachtclub

Der Typ mit seinen bunten Lamettahaaren und seinen Leuchtaccessoires aus dem Pearlkatalog vollführt etwas, dass er tanzen nennt und ich als Epilepsieanfall bezeichne. Kleinkinder schreien um Aufmerksamkeit zu bekommen, später funktioniert so was nicht mehr ganz so gut und man versucht es mit anderen Dingen. Ich bin überzeugt: dieser Mensch wählte sein Outfit für dieses Vorhaben.

Ein bisschen wie diese ‘Lady Gaga‘ sieht er aus, so wie er da im Blitzlicht zappelt. Wie diese Frau eben, die ihre Weiblichkeit für ein Leben als Plattenvertragsprostituierte opferte. Seine Hände greifen spastisch in alle Himmelsrichtungen, ein bisschen wie ein stark beschleunigter Baumwollsammelafrikaner, der den Weltrekord darin zu brechen oder respektvoll aufzustellen versucht.

Er ist mit dem, was er "seinen Style" bezeichnet nicht allein auf der Tanzfläche, um ihn herum tummeln sich weitere schwarze Weihnachtsbäume, die ähnliche Symptome aufweisen. Ich fühle mich an nächtliche Zugfahrten im ICE erinnert, alles schwarz und viele bunte Lichter rauschen an mir vorbei.

Irgendwann geht der Typ zum Tresen, direkt in meine Richtung also, und bestellt sich eine kleine Cola. "Meine Chance" denke ich mir und packe die Gelegenheit am Schopf. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu -zugegebenermaßen leicht torkelnd, der Abend ist nicht mehr der Jüngste- und spreche ihn an.

“Ahoi“ sage ich und er grinst mich an, so wie es Menschen tun, die ihre Unsicherheit hinter dämlichen Gesichtern zu verstecken gedenken. Ich spiele den Interessierten und Unwissenden, möchte Wissen, welcher Gedanke, welche Ideologie hinter seinem Lifestyle, seiner Lebensart steckt. Der Knabe wird etwas bleicher in seinem geschminkten Gesicht, man kann die Hoffnung, dass seine Bestellung bitte schnell kommen möge, in seinen unsicheren Augen sehen.

Da in den nächsten 5 Sekunden immer noch keine Cola vor seiner Nase steht, beginnt er, mir stammelnd erklären zu wollen, was er zu verkörpern gedenkt.
Er faselt von Zusammengehörigkeitsgefühlen, von Abgrenzungen von sogenannten Stinos, Stinknormalen, wie er mir auf meine Nachfrage erklärt, aber auch von Akzeptanz gegenüber dem Anderssein. Schon die Kontroversen seiner bisherigen Erläuterung widern mich an.
Aber dein Kleidungsstil, frage ich ihn, warum genau so?
Er überlegt. “Naja, es gibt da eben mehrere Unterteilungen von diesem… dieser…“ –“Subkultur“, helfe ich ihm auf die Sprünge. “Genau, Subkultur, danke, jedenfalls das was ich bin… oder mache, das nennt sich Cyber-Goth, da siehst du eben oft diese bunten Haarteile, Schweißerbrillen, manchmal auch Gasmasken...“. “Und warum das Ganze, welche Idee steckt dahinter?“. Er hat seine Cola mittlerweile in der Hand, allerdings ist das Glas so gut wie leer, weil er nach jedem Satz einen Schluck nimmt, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. “Ja es sieht eben cool aus!“, sagt er mit demselben Grinsen, dass mich schon bei meiner Begrüßung anstrahlte. “Muss jetzt aber wieder los, tanzen und so, war nett dich kennen zu lernen!“ – er rennt förmlich weg. Eigentlich, denke ich mir, hat er mich absolut nicht, ich ihn aber umso mehr kennen gelernt.

Ich beschließe, auf die Menschen zu trinken, die noch für etwas stehen, ob es nun ein bestimmter Gedanke, irgendeine Weltverbesserung oder ganz einfach die Liebe ist. Natürlich geht so etwas nicht ohne das passende Getränk, also schreie ich gegen die Musik an und ordere bei dem tätowierten Barmann ein kühles Billigbier, man gönnt sich ja sonst nichts.

Neben mir sitzt ein Mädchen, welches leider auch dem Phänotyp der bereits genannten Interpretin entspricht. Ich nehme mein Bier, drehe mich zu ihr, so auffällig, dass sie zu mir guckt. Dann hebe ich meine Flasche. “Auf die Liebe“ sage ich in einer Lautstärke, die meine Blickpartnerin unmöglich vernehmen kann. Noch bevor sie die Chance hat, mir ein “Häh!?“ entgegenzubrüllen, drehe ich mich wieder zum Barmann und reduziere den Inhalt meiner Flasche während ich den Inhalt meines Körpers vermehre.

Jetzt passiert etwas Unerwartetes. Der DJ mit dem wahrscheinlich unter Drogen gewählten Namen “Trolli“ spielt tatsächlich einen Track, der mir das Sitzenbleiben am Tresen einfach verbietet. Meine Stiefel lassen mich auf die Tanzfläche galoppieren. Gabi Delgado-López von ‘D.A.F.‘ hächelt “Als wär’s das letzte Mal“ entgegen, begleitet von tadelloser Synthesizer-Schlagzeug-Kopulation. Wer da sitzen oder stehen bleiben kann, hat Musikgeschichte nicht verstanden.

Die Weihnachtsbäume verziehen sich zum größten Teil von der Tanzfläche, kommt ja auch kein Krach mehr sondern plötzlich Musik. Die übriggebliebenen Lichterkettenträger scheinen sich von mir gestört zu fühlen, da ich die Tanzfläche für mich beanspruche, schuldbewusst gestehe ich mir aber ein, dass meine Schultern die Strahlemänner nicht zufällig so oft treffen.

Das Lied ist leider viel zu schnell vorbei, doch der DJ scheint mit dem Blindes-Huhn-findet-Korn-Wunder gesegnet zu sein, da er sich entschließt, den Interpreten so schnell nicht zu wechseln, und lieber noch den guten alten Klassiker „Der Musssolini“ durch die Lautsprecher zu jagen. Das vertreibt zwar auch die letzten Wanderlaternen von der Tanzfläche, fesselt mich aber noch Stärker an diesen heiligen Boden. Ich erkenne unschwer, dass es dem Kapellmeister missfällt sein Publikum mit guter Musik vergrault zu haben. So ist es nicht verwunderlich, dass D.A.F. dem Fade-in eines Stückes zum Opfer fällt, welches mit Dezibel, Vulgärvokabular und Metallbauatmosphäre überzeugen möchte. Die Weihnachtsbaumschule versammelt sich wieder auf der Fläche. Wundert mich nicht.

Da meine Stimmung durch die –wenn auch nur kurzzeitig gute- Musik gestiegen ist, verwirkliche ich die Phrase, dass man doch bitte gehen soll, wenn es am schönsten ist. So soll es sein, kopfinterner Phrasendrescher, dein Wort ist mein Gesetz, deine Wünsche meine Befehle, mach’s gut, Nachtetablissement. Immerhin waren die Getränke günstig.


Samstag, 3. September 2011

Chasing Luck

Stomp, stomp, rhytmisch bewegen wir uns im Takt der Musik, es blitzt, unsere Bewegungen sehen in diesem Stroboskoplicht aus, wie eine schnelle Diashow. Diese Fläche ist seit einigen Stunden unser Zuhause und wir genießen jeden Schritt, den wir tanzen dürfen. Von uns aus, kann das für immer so weitergehen, wir sind aus Leder, haben stabile Sohlen, sind kräftig zugeschnürt, alles ist perfekt.

Der Song neigt sich dem Ende und sanft bindet sich der nächste Track an, der nach der Ästhetik unserer Bewegungen schreit. Springerstiefelromantik. Mein Partner und ich, wir fühlen uns angesprochen.

“Well, you're my friend, and can you see?
Many times, we've been out drinking;
Many times we shared our thoughts.”

Der Rhythmus ist fesselnd, der Beat stellt unsere Bodenberührungen in den Schatten. Dieses Lied beinhaltet Magie, die wir zelebrieren wollen.

„…and then I see a darkness…“

Die Tanzfläche ist fast leergefegt, da tanzen nur noch zwei weibliche Turnschuhe, aber die haben es in sich. Das, was die beiden aus diesem Lied machen, können Worte kaum beschreiben, diese Schuhe werden von etwas geführt, das noch wundervoller als dieses Lied ist. Was da passiert, lässt uns in einen Trancezustand fallen. Dass wir hin und wieder aus dem Takt kommen, ist bei diesem Anblick und diesem Lied nicht verwunderlich. Uns wird hier auf die schönste Art, die man sich vorstellen könnte die Show gestohlen. Diese beiden Schuhe dort, sind und bergen das Schönste, das wir jemals gesehen haben.

“Did you know how much I love you?
It’s a hope that somehow you,
Can save me from this darkness. “

Wir bemerken, dass es längst zu spät ist, uns gegen das zu wehren, was da mit uns passiert ist. Diese Schuhe dort drüben können und dürfen wir niemals gehen lassen. Unser Ziel wird uns bewusst, wir sind und waren nie frei von Schuld, aber hier wird uns klar, was wir wollen, und wenn wir diese Schuhe jagen und ewig verfolgen müssen, bis selbst unsere massive Stabilität irgendwann zu zerbersten beginnt.

„Well, I hope that someday buddy
We have peace in our lives;
Together or apart,
Alone or with our wives,
And we can stop our whoring,
And pull the smiles inside,
And light it up forever,
And never go to sleep.
My best unbeaten brother,
This isn't all I see.“

Und als wir uns langsam an die beiden heranwagen, zu einer tanzenden Symbiose zu verschmelzen beginnen, da bemerken wir, dass die Damen auf keine leichte Beute sind. Dass sie es uns schwer machen, uns auf die Probe stellen wollen. Das wird kein leichtes Spiel.

„Oh no, I see a darkness.“

Aber immerhin gewähren sie uns, diesen magischen Moment mit ihnen zu teilen. Und wir genießen jedes antanzen und angetanzt werden. Für Menschen die Droge, für uns das schnuppern an der Schuhcreme, so lässt sich beschreiben, wie sie uns berauschen. Wir sind süchtig nach der Liebe, die in diesen Schuhen steckt.

„Did you know how much I love you?
It’s a hope that somehow you,
Can save me from this darkness.”



Vielen Dank an Johnny Cash und Acid Pauli für diesen wunderschönen Moment.

Mittwoch, 13. April 2011

Der Sturm

Eiskalter Regen durchnässt mich. Ich habe gewusst, dass er kommt, schon lange. Vorbereitet war ich trotzdem nicht darauf. Da war kein Schirm, der mich hätte schützen können, kein Dach, um mich darunter zu verkriechen. Es ist als säße ich auf einer riesigen Wiese, bewegungsunfähig, paralysiert. Ununterbrochen und ohne Gnade stürzen Bäche auf mich herab. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals hilfloser gefühlt habe als jetzt. Selbst wenn da jemand wäre, der mir schützend seinen Schirm über den Kopf halten würde, das Wasser würde ihn ignorieren und einfach hindurchtropfen. Also gebe ich auf, ich akzeptiere den Sturm nicht, aber ich weiß, dass ich ihn nicht aufhalten kann, nicht ich…

Ich verbringe Tage in diesem Regen, gewöhne mich daran. Aufstehen kann ich noch immer nicht, da ist immer noch das Gefühl absoluter Schwäche und Lebensunfähigkeit. Die Welt zieht an mir vorbei und es ist mir egal. Der Regen spült Wünsche, Träume und Ziele aus meinem Kopf, lässt sie verwischen und zu Ängsten werden. Erneut…

Ich beschließe aufzugeben, die Augen zu schließen und den Sturm zu akzeptieren, er kann mich mitnehmen, es hat keinen Zweck mehr auszuharren und auf Besserung zu hoffen…
Nur ein letzter Blick soll es noch sein, noch einmal tief Luft holen, ein letztes Mal…

Ich reiße meine feuchten Augen also noch ein letztes Mal auf, will genießen können, was ich sehe, auch wenn es ein trauriger Anblick ist. Doch etwas hindert mich, meine Augen zu schließen. Da ist etwas. Etwas Kleines. Etwas Rotes. Und als ob es sehen könnte, was in mir vorgeht, fliegt es auf mein Knie zu und setzt sich. Ich beobachte das Insekt, es krabbelt in Kreisen auf meinem Bein herum, so, als würde es meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit wollen. Als wollte es verhindern, dass ich die Augen schließe. Bis auf ein gelegentliches Zwinkern gelingt es ihm. Es läuft auf meinen Arm, dann auf meine Hand und ich halte die Hand nah an mein Gesicht, um es zu beobachten. Die Punkte auf seinen Flügeln scheinen mich anzugrinsen, das erste Grinsen seit langem. Langsam spannen sich meine Mundwinkel an und ich grinse vorsichtig zurück…

Um mich herum wird es plötzlich lauter, nicht unangenehm, aber deutlich merkbar. Als der Käfer mir über den Körper läuft, bemerke ich, dass ich trocken bin. Er hebt ab, und fliegt vor meinem Gesicht herum, dann über meinen Kopf, als solle ich hinauf sehen. Und wirklich, Sonnenstrahlen. Hat es nicht eben noch gestürmt?...

Der Käfer setzt sich wieder auf mein Knie, da scheint es ihm zu gefallen. Seine Beine kitzeln mich ganz leicht und ich rede mir ein, er will mir damit sagen, dass er sich wohl fühlt. Ich traue mich nicht so recht, den Käfer auch zu kitzeln, aber ich grinse ihn weiter an, sicher findet er das auch ganz gut…

Mir wird klar, dass er nicht ewig bleiben wird, dass er wieder davonfliegen und mich hoffentlich in guter Erinnerung behalten wird, so wie ich auch ihn nicht vergessen werde.
Der Käfer weiß, dass ich das weiß, und es macht ihn auch ein bisschen traurig, aber wir beide wissen, dass es passieren wird. Und wir akzeptieren es, genießen die Zeit, die wir haben und schöpfen den Moment vollkommen aus…

Er fliegt los, er muss, aber es ist okay. Was jetzt kommen wird ist unbekannt, ich sehe in die Richtung, in die der Käfer verschwand, möchte zu dem Baum, auf den er sich setzte, um sich noch einmal umzudrehen und mich anzulächeln, und als ich vor ihm stehe, stelle ich fest, dass ich wohl wieder aufstehen kann…


Für R.

Das Entlein…

…ist ganz und gar nicht hässlich. Das Entlein ist unscheinbar, freundlich und lebenslustig.

Aber das Entlein ist einsam. Es ist einsam, weil da niemand ist, der in dem Entlein das erkennt, als was es wünscht, erkannt zu werden. Das Entlein will erkannt werden, wertgeschätzt, geliebt. Aber bisher hat es damit nicht viel Glück gehabt.

Und das macht das Entlein traurig, und das Entlein fühlt sich nicht gerecht behandelt.

Und das macht das Entlein wütend, und weil das Entlein nicht weiß, auf wen oder was genau es wütend sein soll, wird das Entlein langsam aber sicher hässlich. Nicht äußerlich, das Entlein verhält sich hässlich. Es wird hässlich zu denen, die das Entlein mögen, weil doch keiner erkennt, dass das Entlein innerlich längst ein Schwan ist.

Und dann ist es umso trauriger, weil keiner mehr da ist, der erkennen könnte, dass dieser Schwan mal ein Entlein war...