Donnerstag, 15. August 2013

Die WG - Dienstag

Micha.

Wen interessieren schon Uhrzeiten. Es ist Nachmittag und der Unterricht vorbei. Der richtige Stress beginnt erst jetzt, als ich auf meinem Bett liege, die Zimmerdecke anstarre und überlege, was ich mit all der freien Zeit die mir heute gegeben ist anstelle. Die Optionen erscheinen schier endlos. Ein Mittagsschläfchen? Meine Zeit am Rechner verlauern? Eine der zahllosen Spielekonsolen, welche sich in diesen 4 Wänden aufhalten in Betrieb nehmen? Aus dem Fenster starren? Okay, das fällt raus, ich bin ohnehin zu faul, jetzt die Vorhänge beiseite zu schieben.

Immer dieser Entscheidungszwang. Vielleicht sollte ich Rabe oder Erik Gesellschaft leisten? Wobei: Besser nicht. Der eine schläft noch und der andere schon. 
Immer, wenn mich solche Momente plagen, greife ich nach meinem Smartphone und schaue, ob es dort irgendwelche Neuigkeiten gibt. Als Angehöriger der Generation Facebook hat man natürlich immer Angst, irgendetwas zu verpassen.
Als meine Hand die Oberfläche meines Nachtschrankes erreicht, auf welchem sich mein Smartphone standardmäßig befindet, und dort nach mehrmaligem blindem Herumfühlen leider kein Mobiltelefon auffinden kann, erinnere ich mich an das gestrige Dahinscheiden dieses Peripheriegerätes. Hatte mich schon gewundert, warum ich heute im Unterricht so aufmerksam war…

Während ich also nichtstuend und nichtsahnend vor mich hindöse löst plötzlich ein Fingerschnips Gottes mein Problem. Der Heiland kann sich meine Zeitverschwendung nicht länger mit ansehen und schickt einen seiner Boten, um mich von meiner Untätigkeit zu  erlösen.

Es klingelt an der Tür. Zunächst überlege ich, ob meine Faulheit stärker ist, als mein Tatendrang. Dann wird mir klar, dass sich diese Frage eigentlich von selbst klärt, jedoch jeder andere Mensch in dieser Wohnung schläft und ich somit der einzige bin, der für Ruhe sorgen kann.
Ich schäle mich aus meinem Bett, schiebe die nur angelehnte Tür mit meinem Kopf auf und gehe zur Wohnungstür. Vorsichtig wie ich nun einmal bin schaue ich aber zuerst durch den Türspion, bevor ich potentiellen Massenmördern und/oder Männern von der GEZ die Pforte öffne.
Was mich da durch das kleine Loch anstrahlt, lässt mich die Tür aber frei von jeglicher Furcht aufreißen.

Auf dem Flur steht ein rothaariges Mädchen. Es trägt (m)eine Collegejacke, Turnschuhe, gewohnt wenig Kosmetikprodukte, ein orangefarbenes Shirt mit einer orangefarbenen Orange und dunkelblaue Röhrenjeans. In ihrer Hand hält sie eine rote Lederleine und am Ende der Leine befindet sich der Hals eines lächelnden schwarzen Beaucerons.

„Hallo Tina“, sage ich, müde grinsend. Tina umarmt mich und betritt mit Velvet die Wohnung. Tina ist so etwas wie die Gallionsfigur dieses Schlachtschiffes von einer WG. Ein gern und oft gesehener Gast mit größtmöglichem Beliebtheitsfaktor. Das hat mehrere und weitere, für jeden Bewohner der WG verschiedene Gründe. Velvet, ihre Hündin, erfreut sich einer ähnlich großen Beliebtheit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie so gut wie kaum Haare hinterlässt, wenn Tina sie wieder mitnimmt.

Aber auch sonst ist Velvet ein besonders tolles Tier. Da Tina über ein großes Maß an Humor, Geduld, Zeit und vor allem Tierliebe verfügt, hat sie Velvet diverse Befehle beigebracht. Velvet setzt sich, legt sich hin, rollt sich auf dem Boden und macht Männchen bzw. Weibchen. Da das an sich noch nicht sonderlich lustig wäre, hat Tina ihr unter anderem ein weiteres, besonderes Kommando beigebracht. Velvet hört auf das Kommando ‚Fass!‘. Damit erschrecken Tina und ich gerne andere Menschen, denn ruft man Velvet ‚Fass!‘ zu und zeigt auf jemanden, dann rennt sie auf diese Person zu, bleibt vor ihr stehen und legt sich auf den Rücken, in freudiger Erwartung darauf, von ihrem Gegenüber auf dem Bauch gekrault zu werden. Leider müssen so gut wie immer Tina oder ich diesen Part übernehmen, weil die betroffenen anderen Menschen längst schreiend geflohen sind. Man kann es ihnen nicht verübeln, denn auf Menschen, die Velvet nicht kennen, kann dieses Tier schon einen respektablen Eindruck machen…

„Die anderen schlafen gerade, lass erst mal in mein Zimmer gehen, okay?“, frage ich rücksichtsvoll leise und Tina nickt mir zu und folgt mir. Selbst Velvet scheint sich Mühe zu geben, sich möglichst leise zu bewegen.
Ich schließe meine Zimmertür von innen und Velvet legt sich auf meine Couch und schließt ihre Augen. Sie liebt meine flauschige Couchdecke.

Was nun folgt, ist einer der persönlichen Gründe, warum ich Tina so schätze.
„Wollen wir was zocken?“,  fragt sie mich. Ich schaue etwas niedergeschlagen. „Was ist denn los?“
„Naja, ich hab doch letztens mit Erik gespielt und du weißt ja wie er so reagiert, wenn er meint, das Spiel hätte ihn unfair behandelt. Dieser Haushalt hat somit nur noch einen, genauer: meinen Controller. Der von Rabe liegt bei einem seiner Mitstudenten, er verlieh ihn mit den Worten: ‚Brauchen wir eh erst mal nicht, haben ja nur 2-Spieler-Spiele, da reichen doch fürs Erste 2 Controller aus.‘, ich wünschte er hätte gewusst, dass er da bestimmte Faktoren, beziehungsweise Mitbewohner, berücksichtigt hätte…“
„Ja, und? Weiß ich doch, hat er mir selbst erzählt. Hab meinen eigenen dabei. Sicherheitshalber habe ich auch das ein oder andere Spiel mitgebracht, such dir einfach was aus!“ und sie reicht mir ihre Tasche. Wir probieren diverse Softwareperlen durch, bilden perfekte Teams in kooperativen Spielen und unerbittliche Blutfeinde, wenn es darum geht, uns in anderen Spielen gegenseitig fertig zu machen.
Am Ende kann man grob überschlagen sagen, dass die Ergebnisse einen Gleichstand aufweisen. Dummerweise spreche ich die Gleichstandsache laut aus und sowohl Tina als merkwürdigerweise auch Velvet funkeln mich knurrend an. „Fass!“ sagt Tina böse, und bedeutet Velvet den Weg in meine Richtung anzustreben...


Rabe.

Ich hatte einen Traum. In meinem  Traum lebte ich in einer WG und meine Mitbewohner hatten exakt denselben Schlafzyklus wie ich. Dann erwachte aufgrund lauten Gelächters aus dem Zimmer gegenüber von meinem. Der leere Flur dazwischen vermag die Schallwellenarmee nicht aufzuhalten, welche mir den überraschenden Krieg erklärt. Ich springe auf, im Flur schnappe ich mir auf dem Weg zum Feind noch eben den Baseballschläger meines Krach machenden Mitbewohners, der dort herumsteht, falls doch einmal jemand vergisst, durch den Türspion zu gucken und versehentlich so einen GEZ-Peter hereinlässt. Dann stürme ich durch die Tür.

„Zwanziguhrdreißigduhu.. Oh, hy Tina!“ Ich verstecke die Holzkeule hinter meinem Rücken. Velvet springt vom Sofa, rennt hinter mich, schnappt mir das Instrument aus den Händen und rennt damit auf den Flur. Ich nehme an, sie glaubt, ich wolle mit ihr spielen. Jetzt fühle ich mich ein wenig schuldig.
„Na, schon wach, Rabe?“, fragt mich Tina lächelnd und ich antworte ihr mit „Meine Sympathiesensoren haben sich gemeldet und da dachte ich mir, ich schau mal nach. Ist schließlich ungewöhnlich, dass die mich in dieses Zimmer rufen.“
„Ja, danke, das war subtil“, sagt mein Mitbewohner.
„Du solltest wirklich ein wenig freundlicher gegenüber Micha sein! Dank Erik wirst du vorerst mit seinem Controller spielen müssen“, sagt Tina gespielt böse. „Danke Tina, ganz besonders für das In-Schutz-nehmen eines männlichen Menschen als Frau, wirklich gut für mein Ego..."

„Ich glaube, mein Hund möchte sich, dank deines Einflusses, jetzt sportlich betätigen. Schade eigentlich, wollte dich gerade, jetzt wo du wach bist, fragen, ob wir jetzt was machen wollen… So, bei dir und so…“
Weil Micha nicht Nachtragend ist und seine beiden Mitbewohner wie Brüder liebt, rettet er die Situation. „Ich geh gerne mit Velvet raus, außerdem bin ich mit gerade ohnehin in Führung gewesen.“ Warum schaut sie ihn denn plötzlich so grimmig an?

Velvet geht mit Micha Gassi. Wer da wen an der Leine hat, lässt sich wirklich nicht so genau sagen.

Tina und ich verlassen das fremde Zimmer und suchen meines auf. Tina kommt also in mein Zimmer. Tina kommt in meinem Zimmer. Kurz vor mir kommt Tina. In meinem Zimmer. „Hallo? Cpt. Tina an Sgt. Rabe? Würdest du mir bitte mal sagen, wo du schon wieder in deinen Gedanken herumflanierst?“, fragt Tina, als ich eine ganze Weile Stumm neben ihr liege. Auf meiner wie immer ausgeklappten Schlafcouch sehen wir uns auf meinem Laptop gestreamte Filme an. Dabei kritisieren wir natürlich heftig die schlechten schauspielerischen Leistungen der Akteure, die teilweise miserable Auswahl des Soundtracks und natürlich den Film per se. Dass Tina dabei an perfekt ausgewählten Termini unseres Soziolektes nicht zu sparen weiß, ist ein persönlicher Grund für mich, Tina ganz besonders zu mögen. Nach 2 durchschnittlichen Filmen -das skandinavische Kino ist eine Sache für sich- überkommt mich allerdings schon wieder die Müdigkeit. Tina merkt das, sagt, dass das absolut kein Problem wäre und sie ohnehin noch mit Erik was trinken gehen wollte und verabschiedet sich von mir mit einem dahingesummten Schlaflied, während sie mein Zimmer verlässt.


Erik.

Ist es noch oder schon dunkel? Verlasse das Bett und taste nach dem Lichtschalter. Als ich ihn finde und mehrmals betätige fällt mir ein, dass ich die Glühbirne vor Wochen wechseln wollte. Naja, mach ich dann wohl morgen. Vielleicht. Muss jetzt auch so gehen. Ich finde nach kurzer Suche meine Tür samt Klinke und durchschreite Nachtblind die Pforte. Irgendwie ging die Tür auch schon mal leichter auf. Geblendet von all dem Licht auf dem Flur brauchen meine Augen einen Moment, um den dunklen Klumpen auf dem Flurboden zu identifizieren. Offensichtlich kann er sprechen. „Aua. Guten Morgen Erik!“ Diese Stimme kommt mir sehr vertraut vor, mit sorgfältig gewählten Worten möchte ich aber auf Nummer sicher gehen. „Wer isn da?“ Meine Finger reiben über meine Augen.
„Man, man… es ist fast zwölf!“
„Komischer Name, warte ma. Tina? Hallo!“
Langsam erkenne ich sie deutlich.
„Ja hallo!“ Ich helfe ihr hoch.
„Wollte dich fragen ob du Lust hast, was trinken zu gehen.“, sagt sie, während sie ihren Hintern reibt, auf welchen sie wohl eben gefallen ist. „Du bezahlst, du bestimmst…“
Mein Finanzstatus verbietet mir mal wieder, Teil der Spaßgesellschaft zu werden und das versuche ich Tina durch diese Worte klarzumachen. Dann aber geschieht etwas, womit ich nicht zu rechnen gewagt hätte. Tina benutzt Worte, die magischer sind, als alles was David Copperfield jemals von sich gab.
„Kein Problem“

Habe ich mich verhört? Spricht der Herrgott durch die Lippen dieser jungen Schönheit? Ist es Zeit, doch damit anzufangen, die Bibel-PDF, die ich mir einmal interessehalber raubkopierte, um mit den darin enthaltenden Sprüchen zu klugscheißen, zu lesen? Was geschieht hier? „Ganz im Ernst, hab meiner Tante erzählt, ich hätte Geburtstag.“ Ich kann zwar nicht gutheißen, dass Tina der dementen Schwester ihrer Mutter permanent von ihrem ständig angeblich stattfindenden Geburtstagen erzählt, andererseits hatte die gute Frau aber zu mental gesunden Zeiten jemanden zu physisch ungesunden Zeiten geheiratet, dem es finanziell deutlich besser als gesundheitlich ging.

„Na wenn das so ist. Abtaun?“ Das Abtaun ist eine sympathische, günstige und familiäre Kellerkneipe unweit unserer WG. Sein Besitzer und dessen Mitarbeiter sind angenehm im Umgang und sein Name soll wohl lustig sein und eine Art Anglizismus bilden. „Dumme Frage“, sagt Tina, womit sie auch irgendwie Recht hat. Erstens gehen wir nie irgendwo anders hin, zweitens ist es wie bereits erwähnt recht preiswert dort, was die Getränke angeht und drittens sind wir ohnehin zu faul, weiter als bis dahin zu laufen. Außerdem kennen wir kaum Lokalitäten, welche an Wochentagen so lange geöffnet haben, wie das Abtaun.

„Heute gar keinen Hund dabei?“, frage ich. „Micha ist mit Velvet unterwegs. Weißt doch, die beiden mögen sich, man weiß nie wann die wieder auftauchen, ich lass einfach einen Zettel da, dann kann er Velvet später noch vorbeibringen, oder er lässt sie einfach hier schlafen, aber damit er weiß wo ich bin und so…“ Ich mag Velvet. Toller Hund, gibt sogar Pfote wenn man ‚Zahltag‘ sagt.

Im Abtaun angekommen bestellen wir die üblichen Getränke. Tina bekommt zeitgleich eine Club-Mate, einen Long Island Iced Tea und ein Bier und ich bekomme, naja, zunächst einmal drei Bier.
Tina fragt mich etwas frech, was ich derzeit so mache. „Jobsuche“, sage ich kurz, kann aber einfach nicht anders als dabei etwas zu lachen. Auch Tina scheint Probleme damit zu haben. Im weiteren Verlauf dieses Gespräches sprechen wir über alles Mögliche. Oft kommen wir dabei auf lustige, absolut dämliche oder total Spannende gemeinsame Erlebnisse aus der mehr oder weniger entfernten Vergangenheit zu sprechen. Dabei bestellt Tina immer wieder Shotgetränke und wir trinken auf diese Erfahrungen. Je nachdem, ob es lustige Erfahrungen waren oder traurige lachen wir dabei oder spielen theatralisch niedergeschlagen. Ein weiterer Vorteil des Abtauns ist, dass wir das gesamte Team dort kennen, demzufolge verzeiht man uns auch, wenn wir uns hin und wieder etwas zu laut aufführen. Ein Tisch in der Mitte des Lokals übertrifft unsere gelegentlich auftretende Maximallautstärke  allerdings bei weitem…

Man kann ohne große Mühe heraushören, über was sich die drei Herren so amüsieren und es widert offensichtlich die Bedienungsdame an. Auch dem Besitzer an der Bar fallen die Herren negativ auf, und es ist deutlich, dass er, wenn nicht gleich etwas sehr entschuldigendes passiert, die Männer des Hauses verweisen wird. Offensichtlich freuen sich die Typen laut darüber, dass mal wieder irgendjemand mit einer Katze Fußball gespielt hat und das Tier danach, natürlich vor laufender Kamera, auseinander genommen hat.  Als mein Blick wieder in Tinas Richtung begibt, steht diese gerade auf und mir ist sofort klar, dass nun etwas geschehen wird, über das wir bald als spannende vergangene Sache unterhalten werden, während wir darauf Shots trinken.

Tina erreicht den Tisch, sie bebt vor Wut, spricht denn lautesten der Männer aber, mit all der Kraft die sie hat zur Freundlichkeit bemüht an. „Entschuldigung. Es war nicht meine Absicht zu lauschen, doch zufälligerweise hörte ich, worüber Sie drei sich unterhalten und wollte die lustigen Sachen auf Ihrem Telefon auch einmal sehen. Der Mann ist so dumm und betrunken wie er aussieht, er reicht Tina tatsächlich sein Telefon und was sie da sieht lässt sie all ihre Zurückhaltung vergessen.  Tinas Augen weiten sich, ich könnte schwören, dass ich Flammen darin auflodern sehe. Was heißt auflodern, Tinas Augen sind plötzlich Flammenwerfer, ach was, Drachen, bösartige, feuerspeiende Drachen. Ich versuche zu retten, was zu retten ist und renne zu ihr, doch zu spät. Tina zerbricht das hässliche iPhone mit dem noch hässlicheren Inhalt einfach so in ihren zwei Händen. Ich hätte nicht einmal gedacht, dass das möglich wäre.

Der Besitzer lacht nun nicht mehr und auch seine beiden gewaltbereiten Freunde sehen Tina und mich wütend an. Man muss den dreien lassen: Sie sehen plötzlich gar nicht mal so ungefährlich aus. Die drei Männer stehen auf. „Du Tina“, sage ich, ohne meine obere und untere gebisshälfte voneinander zu lösen. „Ich glaube wir sollten jetzt wirklich gehen…“

Der Vorteil am Abtaun ist, dass man jederzeit verschwinden kann, weil man seine Getränke dort standardmäßig sofort bezahlt. Und genau das tun wir jetzt: Verschwinden.
Wir rennen aus der Tür, eine kleine Treppe hoch, die Typen sind dicht an uns dran. Offensichtlich verleihen nicht nur Red Bull, sondern auch diverse andere, insbesondere alkoholische Getränke Flügel oder zumindest Höchstgeschwindigkeiten, welche wir zu erreichen nicht imstande sind. Und ich bin mir sicher, das wars, jetzt werde ich gevierteilt und Tina wird einer Schändung epischen Ausmaßes zum Opfer fallen. Tina fängt an zu schreien…

„VELVET, FASS!“ Ich frage mich, ob sie jetzt, in all der Panik durchdreht, doch als da aus der Ferne gerade ein Hund auf uns zu gerannt kommt begreife ich, dass nicht ihr Verstand zu wünschen übrig lässt sondern meine Sehstärke. Ein immer größer werdender Hund rennt zunächst auf uns, dann aber auf die drei wütenden Herren zu und diese scheinen zu begreifen, dass der Hund offensichtlich zu dem Mädchen gehört, welches eben noch vor ihnen wegrannte, jetzt aber dasteht und die drei böse über ihre Schulter hinweg anfunkelt. Man kann es ihnen nicht verübeln, denn auf Menschen, die Velvet nicht kennen, kann dieses Tier schon einen respektablen Eindruck machen…

Die Typen rennen vor Velvet weg zu einem Wagen, der offensichtlich einem der Herren gehört, springen hinein und der Fahrer tritt das Gaspedal durch. Irren mich meine Augen schon wieder, oder hat der Wagen zwei kaputte Reifen?

„Was war das denn für ne Show?“, fragt Micha, offensichtlich schwer verwundert. „Sie, mein Herr“, antwortet Tina „haben  soeben zwei wunderschönen Menschen das Leben gerettet!“
„Naja, wenn überhaupt war‘s eigentlich der Hund…“, antwortet Micha.
„Stimmt“, antworte ich.
„Hm“, antwortet Tina.
„Gehen wir jetzt wieder rein?“, frage ich hoffnungsvoll.
„Klar, darauf müssen wir trinken!“, sagt Tina und geht voran. Drinnen freut sich der Besitzer über Tinas Heldenmut und die weiteren Getränke des Abends gehen aufs Haus. Für Velvets Anwesenheit macht der glückliche Besitzer eine Ausnahme. „Sag mal…“, sage ich, zu Micha gewandt, „hab ich mir das eingebildet, oder hatte der Wagen an einer Seite zwei platte Reifen?“
„You got me“, sagt Micha. Bin an dem Auto entlangspaziert als ich herkam um Velvet abzuliefern. Hab durch Zufall die Habseligkeiten des Besitzers im Wagen gesehen und dann, nicht mehr ganz so zufällig, den Heckscheibenaufkleber in Frakturschrift. Hab mir gedacht, dass man so viel nicht falsch machen kann, wenn man dafür sorgt, dass er seinen Satz Reifen einfach mal komplett erneuert.“
„Zufälle gibt’s“, sagen ich und Tina gleichzeitig.
„Darauf prost, liebe Anwesende“, sagt Micha und wieder leeren sich drei Gläser.




© Artwork by 'IngeHiske' (http://ingehiske.deviantart.com/)

Montag, 12. August 2013

Die WG - Montag

Micha.

6:30 Uhr. Mein Handy klingelt. Der Versuch ein Lied zu finden, welches ich als Weckton akzeptiere ist wieder einmal gescheitert. Die Liste meiner Lieblingslieder dezimiert sich rapide. Es ist, als würde man am APPD-Stammtisch einen sympathisch anmutenden neuen Gast mitbringen und im schönsten aller abendlichen Momente laut verkünden, dass er der braunen Brut angehört und nur hier ist, weil die Getränke so günstig sind. Spontan hasst man das, was vorher noch so sympathisch wirkte.
In Darren Aronofskys „Pi“  sagt Max Cohen immer ganz cool „Ich drücke auf Return“. Mit genau dieser Coolness und einer gehörigen Portion ‚Der frühe Wurm wird gefressen‘ drücke ich auf die touchscreendigitale Snooze-Fläche.

6:35 Uhr. Meine eigene Genialität schlägt mir ein Schnippchen. Der Wecker des Festnetztelefones in meinem Zimmer gibt dröhnend eine schrille Monomelodie von sich. Dummerweise steht das Gerät in einer mit minimalem Bewegungsaufwand nicht zu erreichenden Ecke meines Zimmers. Hausschuh #1 verfehlt sein Ziel. Hausschuh #2 ist wie immer nicht auffindbar.
Ich stehe auf. Ich kapituliere. Mein Genie hat mich besiegt.
6:40 Uhr. Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und putze meine Zähne um mein funkelndes Lächeln aufrechtzuerhalten bzw. zu retten was zu retten ist. Die Snooze-Funktion des Handys meldet sich zu Wort. Ich hasse es, wenn so was passiert.  Zurück in mein Zimmer gehen ist keine Option, das sind mindestens 5 Meter. Diesem blöden 15-Sekunden-Klingelton-Schnipsel in unendlicher Wiederholung halte ich aber genauso wenig  stand. Glücklicherweise erscheint mein Retter auf der Bildfläche. Wie ich ihn kenne und liebe, hat er auch gleich ein paar tagverschönernde Worte dabei, die er aus seinen Lippen fallen lässt.

„Bist du behindert, man?“ -ist das ein Lächeln oder ist das Wahnsinn, was sein Gesicht da formt?-  „Ich kann bis Zehn pennen, du Penner!“
„Offensichtlich nicht.“ Erdreiste ich mich zu erwidern.
„Alter, mach die Scheiße aus“ reagiert er freundlich.
„Sei so freundlich und kümmere dich darum, ja? Ich verspreche dir, keine weiteren Belästigungen, bin dann auch gleich weg.“
„Fick dich.“ Antwortet er freundlich akzeptierend, betritt mein Zimmer, verursacht ein Geräusch, welches nach Hoffnung auf Garantiefall klingt und geht wieder in sein Zimmer.

Ich betrete die Dusche und versuche aus den Unmengen leerer Duschbadverpackungen eine herauszufischen, welche noch einen rudimentären Inhalt in sich birgt. Irgendjemand muss hier dringend mal aufräumen und aussortieren. Vielleicht ist Erik ja so lieb, wenn er irgendwann einmal aus seinem Schlummer erwacht.

7 Uhr. Ich verlasse die Dusche, dann mein Adamskostüm und anschließend die Wohnung. Trotz meiner 22 Jahre bin ich auf dem Weg zur Schule. Nicht jeder macht sein Abitur auf dem geraden Weg.


Rabe.

„Sechsuhrvierzigduhurensohn“ sind meine Worte, bevor ich mich, nun den ersten Frust von mir gegeben beruhigt mit „Bist du behindert, man?“ zu gebären weiß.
Mein Mitbewohner beherrscht die Kunst, von mir gemocht, wobei... geduldet zu werden und mir trotzdem regelmäßig maximal auf die Nerven zu gehen. Die Nacht war lang. Dummerweise war der anschließende Schlaf euphemistisch gesagt kurz. Ich bin nicht Student geworden um weniger als 9 Stunden Schlaf am Tag zu haben.

Ich verfolge seinem Wunsch, für ein stillschweigendes Smartphone zu sorgen. Aufgrund der methodenoffenen Bitte ist immerhin für kreative Frustbekämpfung gesorgt. Die halbleere Club-Mate-Flasche gewinnt dein Zweikampf mit dem Display problemlos. Der Inhalt der ehemals halbleeren Flasche gewinnt wiederum den Zweikampf mit dem Inhalt des Smartphonerestes. Ruhe herrscht. Ich gehe zuerst in mein Zimmer, dann in mein Bett. Als ich dabei am Bad vorbeikomme gebe ich noch ein kurzes „Du Penner, ey!“  von mir. Meine Mutter hat mir beigebracht, stets so was wie gute Nacht zu sagen, der Anstand verlangt es.


Erik.

„Fünfzehnuhrduhurensohn“. Der MP3-Wecker fliegt schon wieder gegen die Wand. Sein vorletzter Flug. Der nächste geht Richtung Plastemüll. „Ups.“
Aufstehen ist nie geil. Da hilft auch keine selbst eingespeiste Musik und sei sie noch so gut.
Erstmal an den Rechner. Ich erwische mich dabei, dasselbe Lied anzumachen, welches eben noch das Todesurteil meines Weckers war.‘ Jimmy Eat World‘ säuseln mir ‚Lucky Denver Mint‘ in meine müden Ohren. Diese Band löst immer wieder eine gewisse Sentimentalität in mir aus. Ich bekomme Mitleid mit meinem Wecker. Vielleicht liegt das aber auch nur an seinen Kaufpreis, welches sich wirklich sehen lassen konnte. Vielleicht kann ich das ja irgendwie als Garantiefall durchgehen lassen, überlege ich, und versuche die Einzelteile aufzusammeln.

Nachdem ich vor kurzem nach dem einen oder anderen Anlauf meine Lehre abschloss, habe ich mir nun vorgenommen, mir erst mal einen Minijob zu suchen. Man soll es ja, gerade in jungen Jahren, mit der Arbeit nicht übertreiben. Gut Ding will ja auch weile haben und der Neider sieht den Garten nur, den Spaten sieht er nicht!

Diese und weitere Phrasen schwirren durch meinen Kopf und ehe ich mich versehe kommt mein lieber Herr Mitbewohner von der Schule. „Schon so spät?“ frage ich verwundert. „Guten… Morgen?“ fragt er vorsichtig. „Es ist 5 durch, jetzt erst aufgestanden?“. Ich blicke leicht schockiert auf die Uhr meines Desktops. „Nö, schon seit 3 wach!“ kontere ich lächelnd. „Oh, doch schon? Was macht die Jobsuche?“ fragt er mit einem Gesichtsausdruck der sich zwischen herausfordernd und grinsend aufhält. „Läuft!“ antworte ich, während meine Finger intuitiv nach der Windows- und der D-Taste suchen. „Sehr gut, bin dann mal drüben, ja?“ sagt er und geht in sein Zimmer.

Die letzten 2 Stunden vergingen zu einem Lied in Dauerschleife, ohne dass ich etwas aktiv davon verarbeitete. Jetzt im Netz nach Minijobs zu suchen wäre ein weiterer Schritt zur Verschwendung eines Tages. Nicht mit mir, Staat der sich für dich und deine miesen Vorstellungen von sozialen Nutzen verbiegenden Gummimänner! Ich klopfe an der Zimmertür meines Mitbewohners an und sage: „bin mal unterwegs“ und die Tür antwortet: „hmhm jaja“. Redundante Artikulation, diese Türen haben einfach keine Ahnung von simpelster Informatik…

Auch ich verlasse dann die Wohnung, allerdings zielloser als meine beiden Mitbewohner. Beides hat seine Vorteile, beides hat seine Nachteile. Ich habe meine Kippen vergessen.  




© Artwork by 'theRockSteady' (http://therocksteady.deviantart.com/)